MEINE WELT
07.06.2024 GesellschaftWas wir noch lernen sollten …
Gestern begann die Europawahl und ich kann nicht hin. Da frau seit über 25 Jahren in der Schweiz lebt, ist sie in Europa nicht länger wahlberechtigt. Zwar hätte ich aussergewöhnliche Umstände geltend machen ...
Was wir noch lernen sollten …
Gestern begann die Europawahl und ich kann nicht hin. Da frau seit über 25 Jahren in der Schweiz lebt, ist sie in Europa nicht länger wahlberechtigt. Zwar hätte ich aussergewöhnliche Umstände geltend machen können, aber welche? Dass ich die Rechte davon abhalten will, «mein Europa» zu einem Europa der sogenannten Vaterländer zu machen? Das trägt leider in einer Demokratie nicht als Motiv.
Mein Europa, in dem ich aufgewachsen bin und nach dessen Werten ich erzogen wurde, ist das Europa des friedlichen Zusammenlebens der europäischen Völker. Klar hat man schon nach dem Jugoslawienkrieg über den Aufbau einer Westeuropäischen Verteidigungsunion gesprochen, aber die Europäer wurden sich schnell einig, dass es unter dem amerikanischen Militärschirm heimeliger war. Sie haben in der Folge in ihre Gemeinschaft investiert. Heute zeigt Europa mit der Digitalisierungsrichtlinie der Welt, wie gute Gesetzgebung geht und wie man politisch Haltung zeigt.
In der Schweiz kann man sich nicht vorstellen, dass die Europäische Gemeinschaft zuerst einmal als politisches Gebilde Substanz bauen musste. Nimmt man die Römischen Verträge von 1958 als Geburtsjahr der Gemeinschaft, dann fängt ihr Leben jetzt erst an: Mit 66 Jahren … – für eine demokratische Institution ist das noch kein Alter.
Für Deutschland war es eine Gnade, dieses Projekt des friedlichen Zusammenwachsens in einen neuen transnationalen Föderalismus. Wir konnten den Horror des Zweiten Weltkriegs nicht ungeschehen machen, aber zumindest meine Generation musste nicht mehr nur zurückschauen, für uns im Westen von Deutschland wurde Bürger*in Europas zu sein zur zweiten Identität. Wir erkennen uns noch heute überall an dieser gemeinsamen Prägung.
Allerdings haben sich die Dinge leider schon wieder gewandelt: Autokratien schiessen gefühlt aus dem Boden, wir sind umzingelt von Krieg, und die Rechten sind im Aufwind: Es freut mich natürlich, wenn Marine Le Pen Alice Weidel im Wahlkampf eine kognitive Kopfnuss erteilt und pseudointellektuelle Lachnummern wie Maximilian Krah oder jener Prinz Dingsbums der 13. sich öffentlich selbst demontieren. Aber es bleibt das Gefühl, als Generation versagt zu haben …
In Europa läuft derzeit ein wunderbares Projekt: Die letzten Überlebenden der Kriegsgeneration erzählen jungen Wahlberechtigten von ihren Erinnerungen. Denn aus ihren Erlebnissen ist Europa gewachsen, aus dem Trauma, das einen Menschen ein Leben lang begleitet, wenn die eigene Mutter stirbt, um das Leben des Kindes zu retten, oder wenn der Vater im Konzentrationslager zugrunde geht, weil er bei der Résistance war. Die Botschaft ist immer die gleiche: «Hütet Euch vor Diktatoren, verhindert Kriege.»
Bernie Bluestein, ein amerikanischer Veteran, sagte anlässlich einer Ehrung durch den US-Kongress: «Wir verschwenden Menschenleben. Ich meine, wir werden immer schlauer, wir fliegen zum Mond, besiegen Krankheiten, aber den Frieden zu wahren, das gelingt uns nicht.»
Petra Huth ist Politikwissenschaftlerin und Ökonomin. Sie lebt in Anwil und amtet dort als Gemeinderätin.