ZEIT FÜR NEUES WISSEN
24.05.2024 GesellschaftWas wissen wir von unserem Gehirn?
Unser Gehirn besteht aus ungefähr 120 Millionen verschiedenartigen Nervenzellen, die miteinander vernetzt sind. Die moderne Hirnforschung hat lange gehegtes Wissen widerlegt. So wird immer noch über ein Reptilienhirn gesprochen, welches das Überleben sichere, über das limbische System, das die Emotionen lenke und über den Neocortex, welcher der Sitz der Rationalität sein soll. Ihm wurde die Steuerung und Kontrolle der beiden andern «primitiveren» Hirnanteile zugeteilt.
Es konnte gezeigt werden, dass dies kaum der Wahrheit entspricht und eher der Idee vom Menschen als höchstentwickeltes Lebewesen entsprungen ist. Viel eher ist die Hirnentwicklung eine Anpassung an die äusseren Erfordernisse, die sich einem Lebewesen stellen. Der molekulare Aufbau und die Genetik der Nervenzellen sind bei allen Wirbeltieren gleich. Wie sie sich spezialisiert haben, ist jedoch abhängig von den äusseren Anforderungen.
Wie aber funktioniert das Gehirn? Entgegen unserem ersten Eindruck, der das Denken als wichtigste Funktion sieht, ist seine Steuerungsfunktion viel wichtiger. Es verarbeitet jederzeit eine enorme Fülle von Meldungen über unsere Empfindungsorgane wie Augen, Ohren, Nase, Mund und Haut. Gleichzeitig wird ihm aus dem Inneren ständig der Zustand des Herzens, der Lunge, der Verdauung, zudem die Funktion unseres Hormonsystems, unserer Muskelspannung zugeführt. Reguliert wird dieses System grösstenteils unbewusst.
Wie können all diese Einflüsse sinnvoll verarbeitet werden? Bereits bei der Geburt funktionieren einige Systeme schon erstaunlich selbstständig. Die Atmung stellt sich um, der Kreislauf koppelt sich von der Mutter ab und nimmt sein Eigenleben auf, um das wir uns von da an nur in Ausnahmefällen kümmern müssen. Einige Reflexe sind vorhanden, andere entwickeln sich erst später. Das Gehirn reift, abhängig von äusseren Umständen, bei jedem Individuum anders. Man nimmt an, dass dieser Reifungsprozess etwa 25 Jahre dauert.
Stellen Sie sich vor, sie müssten ständig über alle Meldungen nachdenken und sie in der Bedeutung einordnen: kaum vorstellbar. Das Gehirn übernimmt es auf eine besondere Art: Es versucht, das labile System «Leben» zu erhalten und es vor dem Niedergang zu schützen. Das Chaos der Meldungen, sowohl aus der Umgebung und aus dem Inneren werden nach ihrer Bedeutung gewichtet, mehrheitlich unbewusst und automatisch. Dabei orientiert sich das Gehirn an seinen Erfahrungen aus der Vergangenheit, und es hat aus sich wiederholenden Erfahrungen ein Gedächtnis oder besser gesagt ein Konzept angelegt, an dem es sich orientiert. So wird in Blitzes-Eile eine Antwort geliefert, die am besten zu der neuen Situation passt.
Folgende Situation: Meine Frau und ich sitzen gemütlich zusammen, als plötzlich ein Rumpeln und Grollen über unsere Köpfe hinzieht. Als Erstes denken wir an das Donnern eines Gewitters, aber der Blick nach draussen zeigt rundum einen blauen Himmel. Sofort sucht das Gehirn nach vergleichbaren Erfahrungen. Könnte es auch ein Erdbeben gewesen sein? Dagegen spricht, dass es uns nicht gerüttelt hat und die Dauer zu kurz war. Ist etwas vom Dach gerollt? Die Kontrolle von aussen zeigt keine entsprechenden Hinweise. Beunruhigend, die ganze Situation. Erlöst werden wir etwa eine Viertelstunde später, als sich von Westen her der Himmel verdunkelt und dasselbe Geräusch wieder ertönt.
Damit ist die erste Hypothese bestätigt, nur die dazu passenden Zeichen haben anfänglich gefehlt. Das hat Unsicherheit provoziert. Das Gehirn reagiert mit einer Hormonausschüttung, welche die Alarmbereitschaft steigert, um einer Bedrohung zu begegnen. Dieses Erlebnis war neu: Es kann auch aus heiterem Himmel donnern. Das Gehirn erweitert sein Konzept und in Zukunft wird ein Donnern bei schönstem Wetter nicht mehr die gleiche Reaktion auslösen.
Diesen Vorgang nennt man lernen. Es gibt noch viele Dinge, die das Gehirn anders macht, als wir uns dies bisher vorgestellt haben. Einige der interessantesten Aspekte werde ich in den nächsten Folgen schildern.
Eine führende Forscherin auf diesem Gebiet: www.lisafeldmanbarrett.com (leider nur in Englisch, ein wichtiges Buch von ihr gibt es auch auf Spanisch und Italienisch)