KREUZ UND QUER
03.04.2024 BaselbietEine Liebe auf Umwegen
Raclette, Rösti und Stocki haben zwei Dinge gemeinsam. Sie gehören zum Grundinventar der kulinarischen Erfahrung jedes Schweizers und jeder Schweizerin und sie bestehen aus der Wunderknolle Kartoffel. So selbstverständlich die ...
Eine Liebe auf Umwegen
Raclette, Rösti und Stocki haben zwei Dinge gemeinsam. Sie gehören zum Grundinventar der kulinarischen Erfahrung jedes Schweizers und jeder Schweizerin und sie bestehen aus der Wunderknolle Kartoffel. So selbstverständlich die Kartoffel zur Schweizer Küche gehört, könnte man meinen, dass sie immer schon da war. Weit gefehlt! Läuft man in der peruanischen Andenregion durch die Marktstände, sieht man «papas» – das Wort für Kartoffel in der indigenen Sprache Quechua – in solch unterschiedlichen Formen und Farben, dass man im ersten Moment gar nicht an Kartoffeln denkt. «Papas» wachsen wild in den Anden und wurden vermutlich vor über 8000 Jahren in den Hochebenen das erste Mal domestiziert. Da auf über 3500 Metern über Meer fast nichts mehr anderes ausser «papas» wächst, ist die Bedeutung der Knolle für die Einwohner und Einwohnerinnen in diesen Regionen kaum zu überschätzen.
Als die spanischen Konquistadoren den südamerikanischen Kontinent erreichten und im 16. Jahrhundert das Inka-Reich unterwarfen, waren diese vor allem auf Gold und Silber aus. Neben Infektionskrankheiten, denen ein Grossteil der Ureinwohner und Ureinwohnerinnen zum Opfer fielen, brachten die Spanier auch landwirtschaftliche Produkte aus ihrer Heimat mit. An den Kulturpflanzen der Inkas und deren Essgewohnheiten fanden sie zu Beginn wenig Gefallen. Die Kartoffel wurde links liegen gelassen. 50 Jahre später schaffte sie es zwar doch noch über die Kanarischen Inseln nach Europa, hatte jedoch lange einen schweren Stand. Fehlendes Wissen und alte Gewohnheiten liessen ihr Potenzial bis ins 18. Jahrhundert unausgeschöpft.
Erst auf den kargen Böden Irlands merkten die armen Bauern und Bäuerinnen, dass die Kartoffel im Gegensatz zu Getreide pflegeleichter ist und erst noch den vierfachen Flächenertrag einbrachte. Während in London die Kartoffel noch als Zierpflanze von Botanikern gehalten wurde, löste sie in Irland einen Bevölkerungsboom aus.
Durch Kriege, Hungersnöte und Einzelne, die erkannten, dass Kartoffeln nicht nur ertragreich sind, sondern wegen ihrer Inhaltsstoffe auch einen positiven Einfluss auf die Gesundheit haben, setzte sich die Knolle langsam und schleppend durch.
Überall dort, wo Kartoffeln im grossen Stil angebaut wurden, stieg die Bevölkerungszahl an und versorgte die Industriezentren mit günstigen Arbeitskräften.
Eher beiläufig schlich sie sich in den Voralpen unter den Raclettekäse der Bergbauern und Bergbäuerinnen, und nach nur wenigen Generationen erinnerte man sich kaum noch daran, woher sie kam. Die Anbauschlacht während des Zweiten Weltkriegs, bei der jedes Stück freie Fläche mit Kartoffeln gefüllt wurde, sorgte für die vollständige Aneignung und Integration in das kollektive kulturelle Erbe der Schweizer Bevölkerung. Hätten die Spanier die Inkas einfach um Rat gefragt, wären den Menschen in Europa einige Hungersnöte erspart geblieben. Dafür haben Sie beim nächsten «Racletteplausch» eine gute Geschichte zu erzählen.
Nikolaos Schär (29, ehemals Geschichtsstudent) ist in Basel geboren, in Läufelfingen aufgewachsen und im Dunstkreis von Sissach sozialisiert worden. Er hat den Rucksack und seine grosse Liebe mitgenommen, um die kleinbürgerliche Idylle gegen die unbekannte, weite Welt einzutauschen.