MEINE WELT
09.02.2024 GesellschaftDie Demokratie braucht uns
Immer mehr Jugendliche in der Schweiz nehmen Medikamente. Urteil des Psychologen: Sie halten die digitale Beschleunigung nicht aus, brechen unter dem Druck zusammen. Tja, es kämpfen ja schon Babys gegen Smartphones um die Aufmerksamkeit ...
Die Demokratie braucht uns
Immer mehr Jugendliche in der Schweiz nehmen Medikamente. Urteil des Psychologen: Sie halten die digitale Beschleunigung nicht aus, brechen unter dem Druck zusammen. Tja, es kämpfen ja schon Babys gegen Smartphones um die Aufmerksamkeit ihrer Mütter. Sind sie dann später selbst digital unterwegs, müssen sie sich im schlimmsten Fall gegen Therapeuten, Coaches und Mediatoren wehren. Aufgedrückt von Eltern, die sich im Arbeits- und Alltagsleben am Leistungsprinzip von Computern orientieren und keine Nerven für Kinder mit Leistungsverzögerung haben. Schliesslich geht man ja mit einem gebrochenen Arm auch sofort zum Arzt. Wir funktionieren vermehrt binär: Entweder hochleistungsmässig intakt oder kaputt, aber immer im wahrsten Sinne des Wortes wert-geschätzt. Abgrenzung, neudeutsch «Chillen», wird zum Kunststück in der überall zeitgleich erfahrbaren Welt. Aktuell fühlt es sich wie eine TGV-Fahrt in eine düstere Zukunft an. Nur Zyniker zögen den ICE vor, mit dem man sicher nie dort ankäme. Am Ende des Tunnels wartet das Comeback des amerikanischen Horrorclowns stellvertretend für den neuen Typus der degenerierten Demokratie.
Nichts ist mehr sicher, der Frieden nicht, Rente und Pflege nicht und schon gar nicht die wirtschaftliche Zukunft. Wir erleben als westliche Industriegesellschaften unsere erste multiple Krise, das Ende ist nicht absehbar. Wir verlieren den Vorsprung, bekommen aus ärmeren Ländern Konkurrenz und dürfen uns nicht mehr leisten, was früheren Generationen selbstverständlich war. Die Geschlechter reagieren unterschiedlich: Frauen werden liberaler, Männer konservativer. Früher bewegten sie sich stets gemeinsam in die gleiche Richtung.
Neue Geschlechter treten aus ihrem bisherigen Schattendasein aus. Das männliche Habitat reduziert sich vor allem um Unaussprechliches: Herrenwitze, Alpha- und Karrieredomänen, Testosteron. Aus alledem entsteht ein tiefes Misstrauen gegenüber der Zukunft. Nicht für alle, aber gefühlt für immer mehr. Political Correctness und Existenzängste sind Nährboden für rechte Menschen statt Menschenrechte, für Remigration statt Inklusion und die autoritäre Welt der Ewiggestrigen, in der jeder seinen Platz zugewiesen bekam und alles schön übersichtlich war. Wissenschaftler und Intellektuelle werden je nach Demagogenstil entweder als Softies oder als Elite verunglimpft. Differenzierung ist out, Populismus um jeden Preis in, Bauchgefühle werden zu politischer Meinung.
Dabei steht die ultimative Bedrohung noch an: Die Eroberung menschlicher Singularität durch Künstliche Intelligenz. Statt ihr Potenzial zu entdecken, jammern wir jetzt schon über den Verlust unserer Menschlichkeit und vergessen dabei: Es ist an uns, Kreativität, Mitgefühl, Reflektion und Spontaneität zu pflegen, denn diese Eigenschaften machen uns unersetzlich. Dafür müssen wir im Gespräch miteinander bleiben. Vielleicht bieten die sich ausbreitenden Demonstrationen über unsere Ansprüche an den Staat den geeigneten Anlass. Schliesslich sind Menschen unberechenbar.
Petra Huth ist Politikwissenschaftlerin und Ökonomin. Sie lebt in Anwil und amtet dort als Gemeinderätin.