KREUZ UND QUER
09.02.2024 BaselbietPinochets Pyramide
Ein schmaler Streifen schlängelt sich auf der Nord-Süd-Achse der Region Aysen im nördlichen Patagonien durch eine zerklüftete Landschaft voller Gletscher, Fjorde, Seen und Flüsse. Die «Carretera Austral» treibt uns ...
Pinochets Pyramide
Ein schmaler Streifen schlängelt sich auf der Nord-Süd-Achse der Region Aysen im nördlichen Patagonien durch eine zerklüftete Landschaft voller Gletscher, Fjorde, Seen und Flüsse. Die «Carretera Austral» treibt uns immer wieder Schweissperlen auf die Stirn, wenn die Steine auf die Unterseite unseres Mietautos knallen. Die Chance, hier einen Platten zu bekommen – betrachtet man die holprige Schotterstrasse –, scheint gefühlt bei 100 Prozent zu liegen. Also besser nach oben schauen, wie das stürmische Wetter gegen die mit Regenwald behangenen Gebirgszüge prallt.
Bevor die Militärdiktatur unter Pinochet das grösste Infrastrukturprojekt Chiles im 20. Jahrhundert startete, war die Region nur auf dem Seeweg mit dem übrigen Staatsgebiet verbunden. Als Grundvoraussetzung für eine Grenzziehung mit dem Nachbarn Argentinien, wurde dieses Gebiet erst kurz vor 1900 von einem deutschen Geografen kartografiert, zu einer Zeit, als nur wenige Siedler über Argentinien den Versuch starteten, hier mit Viehwirtschaft den Lebensunterhalt zu bestreiten. Das Projekt diente der Region als Integration in den Zentralstaat und stärkte unter geopolitischen Gesichtspunkten die Souveränität Chiles gegenüber dem Nachbarn. 20 Jahre baute die Infrastrukturabteilung des Militärs mit der Hilfe Zwangsrekrutierter an der 1200 Kilometer langen Strasse. Pinochet unternahm jedes Jahr eine Reise in die Region, um sich über die Fortschritte zu erkundigen. Vor der Errichtung der Strasse wurden die täglichen Nachrichten mittels VHS-Kassetten aus der Hauptstadt in die Region gebracht, so isoliert musste man sich das Leben der Gauchos vorstellen; und noch heute kommt auf einen Quadratkilometer nur ein Mensch.
Jedes Jahr müssen die Bagger auffahren, um die ausgewaschene Strasse wieder instand zu setzen, aber sie ist gekommen, um zu bleiben, im Gegensatz zu anderen Projekten wie Luxushotels und Kanalbauten, die sich die Natur trotz riesiger Investitionen mühelos wieder einverleibt hat. Fasziniert von dieser Rauheit, investierten die Tompkins (Gründer von «The North Face» und «Esprit») ihr gesamtes Vermögen, um mit den grössten privaten Landkäufen in der Geschichte Nationalparks zu errichten und zu fördern. Die Nationalparks gehören heute dem Staat und werden von einer unterfinanzierten Behörde gemanagt. Ohne abenteuerlustige Touristen mit dickem Portemonnaie wird der Ausbeutung der Natur wieder Tür und Tor geöffnet. Noch greifen die Stiftungen dem Staat unter die Arme. Doch der Wettlauf gegen das Wetter beginnt: Kommen die Touristen noch, wenn die Wege nicht unterhalten werden? Verschwinden die Jungen, wenn der Tourismus keinen Lebensunterhalt mehr ermöglicht?
Eines ist sicher. Das Wetter peitscht beständig durch die Täler in Aysen und gräbt sich in Pinochets Vermächtnis, Jahr für Jahr. Immer öfter tauchen Betonmischer auf und zementieren die Schotterpiste. Ihr Charme wird verschwinden, doch sie muss sich wandeln, will sie bestehen. Vielleicht geht den Maschinen irgendwann der Saft aus, die Tompkins würde es freuen.
Nikolaos Schär (29, ehemals Geschichtsstudent) ist in Basel geboren, in Läufelfingen aufgewachsen und im Dunstkreis von Sissach sozialisiert worden. Er hat den Rucksack und seine grosse Liebe mitgenommen, um die kleinbürgerliche Idylle gegen die unbekannte, weite Welt einzutauschen.