AHNIG VO BOTANIK
30.01.2024 BaselbietDie grünen Felsen
Andres Klein
Wer das Glück hat, die weiten Hochebenen der Anden zu erleben, der kann grosse froschgrüne Steinblöcke entdecken. Diese sind bis zu drei Meter hoch und mehr als zwei Meter breit. Erst wenn man ...
Die grünen Felsen
Andres Klein
Wer das Glück hat, die weiten Hochebenen der Anden zu erleben, der kann grosse froschgrüne Steinblöcke entdecken. Diese sind bis zu drei Meter hoch und mehr als zwei Meter breit. Erst wenn man sich die Mühe macht und die grünen «Felsen» aus nächster Nähe, am besten mit der Lupe, betrachtet, sieht man keinen Felsen, sondern eine Pflanze. Diese Pflanze ist ein Doldenblütler. Sie heisst im Ursprungsland Llareta oder Yareta oder wissenschaftlich «Azorella compacta». Der Einfachheit halber habe ich sie Anden-Rüebli genannt.
Diese Pflanze hat Blättchen, die kleiner als fünf Millimeter sind. Die fünf gelblichen Blüten mit fünf Kronblättern von höchstens einem Millimeter Länge wachsen in einer Dolde. Eine Pflanze bildet sehr viele Äste und Ästchen aus und wird so zu einem riesigen Polster, wie wir sie vom Steinbrech oder anderen Alpenpflanzen kennen. Sie können dreissig oder mehr Quadratmeter bedecken. Das Polster wächst pro Jahr randlich höchstens einen Millimeter. Somit sind die grössten gefundenen Polster des Anden-Rüeblis über 3000 Jahre alt.
Pflanzen, die so alt werden, haben einen Vorteil, denn im Laufe ihres Lebens können sehr viele Mutationen auftreten. Wenn sie negativ sind, sterben die Pflanzen, wenn positiv, dann haben sie einen nächsten Schritt in der Anpassung an die Umgebung gemacht.
Die polsterförmige Wuchsform ermöglicht es der Pflanze, sehr viel Energie zu sparen, weil der Wärmeverlust bei einer Halbkugel geringer ist als bei anderen Wuchsformen. Energiesparen ist auf über 4000 Metern ein Muss, wenn die Pflanze überleben will. Die «grünen Felsen» sind meist Richtung Norden oder Osten ausgerichtet, wo die Sonne am intensivsten einstrahlt. So kann jeden Tag viel Energie gespeichert werden, um die Nacht zu überleben.
Diese Pflanze produziert sehr viel Harzstoffe mit verschiedenen Terpenen als Inhaltstoffe. Diese schützen die Pflanze vor Bakterienbefall und vor Frassfeinden wie den Vicuñas. Sogar im Boden im näheren Umfeld helfen die Harze gegen mikrobiotische Schädlinge. Das Harz war für die Indigenen immer auch ein wichtiger Bestandteil ihrer entzündungshemmenden Heilmittel.
Leider sind diese Harze und das viele abgestorbene organische Material im Innern der Polster kein Mittel, um den schlimmsten Feind – den Menschen – fernzuhalten. Schon im 19. und 20. Jahrhundert haben die vielen Minen diese energiereichen Pflanzen zur Verhüttung der Erze gebraucht. Die Kupfermine von Chuquicamata verbrannte im Jahr 1958 über 1000 Tonnen Llaretas pro Monat. Das ist jetzt verboten, doch die Pflanzen bilden heute den einzigen Brennstoff für die armen Indio-Familien.
Fast alle grösseren Exemplare dieser Pflanze weisen auf der Oberfläche kleinere oder grössere Brandspuren auf. Diese stammen von Blitzen, die im Innern der Polster das energiereiche Material in Brand gesetzt haben. Da die Knospen sehr gut geschützt sind, gelingt es vielen Pflanzen, sogar die verkohlten Stellen wieder zu überwachsen und den Tod abzuwenden. Somit sind diese «grünen Felsen» wahre Überlebenskünstler in einer wirklich sehr lebensfeindlichen Umgebung.
Andres Klein ist Botaniker.
Er lebt in Gelterkinden.