MEINE WELT
29.12.2023 GesellschaftEgoisten
Natürlich handelt diese Kolumne weder von Égoïste, dem Herrenparfüm von Chanel, noch von einem Modehaus gleichen Namens. Sie handelt ausschliesslich von reinstem, purem Egoismus. Die ganze Welt dreht sich um mich, denn ich bin nur ein ...
Egoisten
Natürlich handelt diese Kolumne weder von Égoïste, dem Herrenparfüm von Chanel, noch von einem Modehaus gleichen Namens. Sie handelt ausschliesslich von reinstem, purem Egoismus. Die ganze Welt dreht sich um mich, denn ich bin nur ein Egoist.
Dieser Text stammt aus dem Lied «Egoist» des österreichischen Musikers Falco. Das Lied gehört nicht zu meinen Favoriten. Es passt jedoch wunderbar zur Umrahmung dieser Kolumne. Der Mensch, der mir am nächsten ist, bin ich, ich bin ein Egoist.
Ruheabteile in Zügen sind wahre Brutstätten für Egoisten, Egomanen und Egozentriker. Als ich mit meiner Frau im Schnellzug von Sissach nach Aarau fuhr, sind wir versehentlich in ein solches Abteil eingestiegen. Der Zug war gut besucht, wir irrten durch die Gänge und suchten noch nach einem Platz für unsere zwei Koffer.
«Sie wissen aber schon, dass Sie in ein Ruheabteil eingestiegen sind?», fragte mich eine Dame. «Sie dürfen hier in den nächsten 19 Minuten weder telefonieren noch sprechen. Eigentlich dürfen Sie überhaupt nichts.» Natürlich setzte ich mich zu ihr, sagte nett «Grüezi» und blickte interessiert auf den Bildschirm ihres Handys. Nicht, dass es mich interessiert hätte, was sie dort las. Da sie mir jedoch das Teil demonstrativ vor die Augen hielt, war ich gezwungen, mitzulesen. Madame surfte auf der Website eines chinesischen Internethändlers.
Ich denke nicht, dass die Dame eine Dame war. Wahre Damen würden sich nicht so aufführen. Es handelte sich in Tat und Wahrheit um eine alte, verhärmte Egoistin. Die ganze Welt dreht sich um mich, denn ich bin nur ein Egoist.
Es war nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich irrtümlich in ein Ruheabteil, die wohl stupideste Erfindung aller Zeiten, verirrt hatte. Auch zwischen Bern und Olten (51 Minuten) wurde ich vor einiger Zeit blöd angemacht. Als ich meiner Frau zuflüsterte, dass die Reise in die Berge wunderbar war, hörte ich eine Stimme hinter mir. Die Stimme aus dem Off rief mir zu: «Sie dürfen hier nicht sprechen. Sollten Sie es trotzdem tun, werde ich es dem Coiffeur sagen.» Ich entgegnete ihr, dass der Kontrolleur kein Coiffeur, sondern ein Kondukteur sei. Mein Einwand interessierte sie nicht. Ich denke, dass auch diese Dame keine Dame war. Es handelte sich in Tat und Wahrheit um eine alte, verhärmte Egoistin. Der Mensch, der mir am nächsten ist, bin ich, ich bin ein Egoist.
Das Wort «Egoismus» wird als Synonym für rücksichtsloses Verhalten verwendet. Ohne Rücksichtnahme auf die Belange anderer werden persönliche Interessen verfolgt. Schade, dass sich die SBB überhaupt mit solchen Menschen abgeben. Oder habe ich etwas verpasst? Dauerte eine Fahrt von Bern nach Olten früher etwa mehrere Stunden? Oder war es vielleicht ein Bundesrat, der regelmässig von Bern nach Sankt Gallen reiste und einfach nur seine Ruhe wollte?
Dann hätte wohl jemand dessen Wunsch völlig missverstanden. Er wollte nämlich Ruhe vor Egoisten haben.
Der Autor, Kolumnist Hanspeter Gsell, lebt seit mehr als 40 Jahren in Sissach.