Physios halten sich kaum über Wasser
13.10.2023 GelterkindenAuch im Oberbaselbiet schlägt man nun Alarm
Nach dem Prämienschock bei den Krankenkassen ortet der Bundesrat Sparpotenzial bei den Physiotherapeuten. Diese bangen bereits jetzt um ihre Existenz und erst recht um die Zukunft ihres Berufs. Nun setzen sie sich auch im Oberbaselbiet ...
Auch im Oberbaselbiet schlägt man nun Alarm
Nach dem Prämienschock bei den Krankenkassen ortet der Bundesrat Sparpotenzial bei den Physiotherapeuten. Diese bangen bereits jetzt um ihre Existenz und erst recht um die Zukunft ihres Berufs. Nun setzen sie sich auch im Oberbaselbiet zur Wehr.
Jürg Gohl
Der Unterschriftenbogen liegt im Empfangsraum der Neurophysio Biland/Kestenholz an der Poststrasse in Gelterkinden bereits seit Wochen auf. Überschrieben ist er mit der Schlagzeile «Sparen ja, aber nicht auf Ihrem Rücken» und dürfte in allen anderen Praxen im Oberbaselbiet anzutreffen sein. Rund 90 000 Klienten haben schweizweit ihre Unterschriften bereits unter die Petition gesetzt. 120 000 Namen wollen die Physiotherapeutinnen und -therapeuten zusammengetragen haben, bis sie ihre Bittschrift am 17. November in Bern einreichen. Die Übergabe verbinden sie mit einer Demonstration.
Während sich andere Beteiligte im Gesundheitswesen wie die Pharma oder die Spitäler auf die nötige finanzielle Unterstützung verlassen können, fehlt den Physios ein solcher Rückhalt aus Bern. Gesundheitsminister Alain Berset wurde in einer Fragestunde im September zu seinen Sparplänen in dieser Sparte gleich mit 21 Fragen aus allen Parteien gelöchert – zu einer Therapie, zu der man nicht selten verordnet wird, die gleichwohl aber nur 3,6 Prozent der Gesundheitskosten ausmacht.
Ausgaben mehr als verdoppelt
Auf den Plan gerufen hat die Sparer, dass sich die durch die Physiotherapie verursachten und durch die Krankenkassen beglichenen Kosten innerhalb der vergangenen zehn Jahre von 600 Millionen auf 1,3 Milliarden Franken mehr als verdoppelt haben. Das liegt weit über dem Durchschnitt im immer teurer werdenden Gesundheitswesen. «Ein galoppierendes Wachstum», kommentierte kürzlich Pius Zängerle, der Direktor des Krankenkassen-Versicherungsverbands Curafutura.
«Wir sind die Opfer unseres eigenen Erfolgs», sagt Denise Straumann. Sie arbeitet seit 36 Jahren in diesem Beruf und führt unweit der Neurophysio Biland/Kestenholz seit rund zehn Jahren mit Kolleginnen die selbstständige Physiotherapie «am Kreisel». Sie erzählt: Während der Corona-Pandemie, als alle Spitäler aufschiebbare Eingriffe vertagten, seien alle Patientinnen und Patienten den Physios zugewiesen worden. Denn ohne Zuweisung kommt niemand zu einer Therapie.
Zudem gibt die Politik die Losung «ambulant vor stationär» vor. Das heisst: lieber in die viel günstigere Physio, statt teure Spitalbetten belegen. Ursula Biland-Thommen, die Kollegin von gegenüber, pflichtet bei: «Es wird uns Physiotherapeutinnen angelastet, einen Bedarf zu schaffen. Das stimmt nicht.» Den steigenden Bedarf an Physios illustriert auch, dass neben den beiden erwähnten Praxen im Mai eine dritte innerhalb eines Steinwurfs im neuen Gesundheitszentrum Eira in der Allmend in Betrieb gegangen ist: Carmen Grabenstätter und ihr Team haben vom Sissacher «Mülimatt» nach Gelterkinden expandiert.
Wenig lukrative Branche
Eine Therapie kostet aktuell pro halbe Stunde 48 Franken bei Unfall, beziehungsweise 49.60 bei Krankheit. Nun will der Bundesrat über eine neue Zeitkomponente die Physiotherapien noch günstiger gestalten, indem er fordert, dass neu drei statt wie bisher zwei Patienten pro Stunde behandelt werden. «Wir sind bereits die absolut billigsten der medizinischen Leistungserbringer», schrieb Denise Straumann in einem Leserbrief an die «Volksstimme», «wir sind frustriert und fühlen uns nicht ernst genommen, Herr Bundesrat.»
Die aktuellen Tarife bestehen seit 1997. Teuerungsanpassungen, geschweige denn Lohnerhöhungen sind Fehlanzeige. Mit den Einnahmen bezahlen Therapeutinnen und Therapeuten neben der Miete und den Gerätschaften erst noch das Verbrauchsmaterial und reinigen nach Feierabend ihre Praxis selber. Ihre Berichte an die zuweisenden Ärzte und Spitäler sowie die Rechnungen verfassen sie in der Freizeit, und die nicht eben günstigen Weiterbildungen werden aus dem eigenen Sack bezahlt.
In ihrem Dauerstreit mit den Krankenkassen würden sie immer wieder aufgefordert, ihren Zeitaufwand statistisch zu erfassen, sagt Berufskollegin Carmen Kestenholz, «selbstverständlich erledigen wir auch das zusätzlich und gratis».
Schülerinnen «demotiviert»
Physiotherapeutin Ursula Biland aus Gelterkinden blickt auf 25 Jahre Berufserfahrung zurück und macht noch auf einen weiteren Punkt aufmerksam: Weiterbildungen schlagen sich in ihrer Branche nicht in einem besseren Lohn nieder. «Selbstständige Physiotherapeutinnen verdienen heute weniger als selbstständige Handwerker, obwohl die Ausbildung auf Bachelor-Niveau angesiedelt ist und wir verpflichtet sind, uns jährlich weiterzubilden», schrieben sie und ihre vier Praxiskolleginnen in einem Brief an Baselbieter Parlamentsmitglieder.
Ende September beteuerten gleich mehrere angehende Physiotherapeutinnen, die «Telebasel» im Unterricht besuchte, dass sie ihren Beruf wohl lieben, aber aus finanziellen Gründen erwägen, umzusatteln. «Demotivierend» sei die aktuelle Situation, monieren sie. Gegenüber der «Aargauer Zeitung» sagte der selbstständige Physiotherapeut Marco Kamber, wenn er Menschen zuhören und behandeln könne, erfülle sich seine Berufung.
Doch bei nicht einmal 100 Franken Stundenlohn, die im Baselbiet zusammenkommen, könne sich Kamber seine Praxis nur noch dank seines grosszügigen Vermieters leisten. «Am eigenen Einkommen noch mehr Abstriche zu machen, liegt nicht mehr drin», sagte er damals der Zeitung.
Fehlender Nachwuchs
Lindern liessen sich diese Fixausgaben durch eine stärkere Auslastung. Doch diese Hoffnung haben Marco Kamber wie auch Denise Straumann aufgegeben. Da sich längst niemand mehr meldet, verzichten sie darauf, eine Stelle auszuschreiben. Früher seien sie wenigstens in Deutschland oder Holland fündig geworden, heute melde sich niemand. Torge-Nils Eistrup, der Präsident des Physioswiss-Regionalverbands beider Basel, schätzt, dass der Bedarf an neuen Physiotherapeutinnen und -therapeuten nur noch knapp zur Hälfte abgedeckt werden kann.
Deshalb müssen neue Patientinnen und Patienten immer wieder weiterverwiesen werden. «Wir können schlicht niemanden mehr aufnehmen», sagt Denise Straumann, die kürzlich an einem einzigen Morgen gleich elf neue Anfragen abweisen musste.
Dass nach dem jüngsten Prämienschock die einzelnen Kostentreiber unter die Lupe genommen werden, sei für sie nachvollziehbar, schreiben die fünf Therapeutinnen der Neurophysio-Praxis in ihrem Brief. Doch sie lassen ein Aber folgen: «Es ist unserer Ansicht nach jedoch der völlig falsche Ansatz, bei der Physiotherapie anzusetzen.»