Biotop für Unkräuter

Grüne Fugen mildern die Hitze, auch bei uns

Saubere Steinfugen werden mit Wohlstand und kulturellem Fortschritt gleichgesetzt. Aber trifft dies angesichts des Klimawandels noch zu? Erkenntnisse aus der Pilgerstadt Santiago de Compostela empfehlen ein Umdenken.

Heinz Döbeli

Die Corona-Pandemie brachte nicht nur eine Fülle an medizinischen Erkenntnissen, sondern auch die unerwartete Erkenntnis, dass begrünte Ritzen auf Wegen und Plätzen die Temperatur markant senken können.

Wegen der Coronavirus-Pandemie blieben in Santiago de Compostela die Pilger aus. Das hatte zur Folge, dass der Praça do Obradoiro vor der Kathedrale nicht mehr akribisch gepflegt wurde. Der berühmte Platz hatte sich in ein Biotop für Unkräuter verwandelt. Botaniker der Universität von Santiago zählten 44 Arten, die sich ohne jegliche Pflege und trotz grosser Hitze und Trockenheit in den Fugen der 60 000 Quadratmeter grossen Granitfläche entwickeln konnten.

Per Zufall entdeckte der Stadtplaner Angel Panero, dass auf dieser Fläche dank der Begrünung die Temperatur deutlich tiefer war als auf unbegrünten analogen Flächen. Weil die Zuständigen auf den Ämtern skeptisch waren bezüglich der Begrünung von Ritzen, veranlasste Angel Panero eine systematische Untersuchung in einem wenig genutzten Quartier der Stadt. Mit harten Fakten sollten die Verwalter zu einem Umdenken bewegt werden.

Diese Untersuchungen ergaben, dass die Bodentemperatur des mit Granitplatten bedeckten Platzes oft über 50 Grad heiss ist. Wenn die Ritzen begrünt sind, kann die Temperatur um über 20 Grad gesenkt werden. Selbst in Kopfhöhe war noch eine Reduktion messbar. Die müden Pilgerinnen und Pilger werden durch das Unkraut geschont.

Auch die Kasse wird geschont
Ein Platz mit begrünten Ritzen kann mehr Regenwasser aufnehmen als «sauber» gejätete Plätze. Wasser, das nicht zwischen den Ritzen versickert, gelangt nicht ins Grundwasser, sondern in die Kanalisation und von dort in die Wasseraufbereitungsanlage. Der Betrieb einer Kläranlage kostet Geld. Wie viel Geld dank begrünter Ritzen und Mauern eingespart werden kann und welche Kräuter sich besonders eignen, untersucht Angel Panero zusammen mit der Universität.

Aber nicht nur die Pilger und die Stadtfinanzen profitieren. Auch den Insekten nützt es. Verzichtet man darauf, durch Vergiften oder Mähen das Grün der Ritzen auszurotten, kommen die meisten der 44 Ruderalpflanzen zum Blühen. Statt die Begrünung dem Zufall zu überlassen, können durch geschickte Auswahl der Pflanzen farbliche Kunstwerke geschaffen werden. Ideen liefert das Internet.

Nicht nur Kanton und Gemeinden sollten diese Erkenntnisse berücksichtigen, auch auf privaten Vorplätzen ist noch viel Potenzial zur Begrünung vorhanden. Ritzen zwischen Gartenplatten, Ritzen in Gartenmauern und selbst Ritzen im Teer können begrünt werden. Statt zu Gift und Kratzwerkzeug zu greifen, kann man entspannt zurücklehnen und beobachten, wie die Natur den Lebensraum «Ritze» zu nutzen imstande ist.

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