HERZBLUT
25.08.2023 GesellschaftDer Aktionär
Was? Wieder auf 84,78? Nein!
Die Kolleginnen und Kollegen von der Kultur nervten das Sportressort immer. An der Redaktionssitzung richteten diese Gänsekielsauger ihre Nasen zum Himmel und merkten dann schnippisch an, halt null und nichts von ...
Der Aktionär
Was? Wieder auf 84,78? Nein!
Die Kolleginnen und Kollegen von der Kultur nervten das Sportressort immer. An der Redaktionssitzung richteten diese Gänsekielsauger ihre Nasen zum Himmel und merkten dann schnippisch an, halt null und nichts von Sport zu verstehen, nur um sich hinterher in der Kaffee-Ecke lauthals über den FCB auszulassen. Schliesslich gehört eine rudimentäre Allgemeinbildung zum Job. Uns wurde umgekehrt vorgehalten, über einen auf 16 Meter begrenzten Horizont zu verfügen. Falsch! Wir wussten jedenfalls, wenn die Kultur in ihrer Kritik Klee im Kunstmuseum über den grünen ebendiesen lobte.
Nur in einem Punkt war man sich in den beiden Ressorts einig: Das Leben ist zu kurz, um den Wirtschaftsteil zu lesen, zumal unserem Beruf eine tiefe Lebenserwartung angedichtet wird. Diesem Motto blieb ich treu, selbst als zwei Ressortkollegen und ich, mehr als Jux, ein bisschen Aktien einer Bank erwarben, die tatsächlich noch heute existiert. Wir verdienten damit sogar ein bisschen. Nichts lesen über Devisen, lautete damals meine Devise, lieber am Kiosk für Kaugummi klassisch im Kleingeld kramen als weltmännisch die Kreditkarte zücken, sagte sich der Ökonomie-Neandertaler. Mindestens bis vor Kurzem.
Verhielt ich mich in Geldangelegenheiten ein Leben lang immer reaktionär, so bin ich jetzt plötzlich: Aktionär. Selbstverständlich erkundigte ich mich vor dem Einstieg in ein neues Leben nicht bei einem Bankberater, sondern bei einem Freund vom Fach. Und der sprach mir Mut zu: «Sicherer Wert», «Blue Chips», «Dividenden» sind Schlagworte, die jetzt noch durch meine Gehörgänge echoen.
Offenbar machte das Gerücht von meinem Kaufinteresse in der Börsenwelt von Japan bis New York schnell die Runde. Insiderwissen werde das offenbar genannt. Denn seither stürzen meine Wertpapiere immer mehr in Richtung WC-Papier ab. Es vergeht kaum ein Tag, an dem der Kurs nach Schluss nicht kirschrot eingefärbt ist. Kürzlich sank er an der bösen Börse innert einer halben Stunde um gerundete 2,87 Prozent. Einzig meine Fieberkurve entwickelt sich aktuell entgegengesetzt.
Dem wohlweisen Rat, dass ein richtiger Aktionär Gelassenheit mimt und nur gelegentlich auf den Wert schaut, kann ich nur nachkommen, weil ich «gelegentlich» sehr eng definiere. Sagen wir eine Viertelstunde. Dann zücke ich den Taschenrechner und erhalte drei Mal das gleiche Resultat. Was ist da ein FCB-Match dagegen? Nachts schlafe ich nur deshalb wie ein Hans im Glück, weil dann die Börse geschlossen ist und den Papieren 15,5 Stunden lang nichts passieren kann. Doch noch vor dem ersten Kaffee wird ein erstes Mal geguckt.
Da bleibt nur noch die Hoffnung, dass das Chemie-Unternehmen – denn um ein solches handelt es sich – möglichst schnell eine Wunderpille auf den Markt wirft, die Halux, Heim- und Halsweh sowie Husten und Haarausfall in einem Aufwisch heilt. Sie würde bei mir eine Gemüts-Hausse auslösen.
Was? Trotz eines kleinen Zwischenhochs 84,60? Nein!
Jürg Gohl, Autor «Volksstimme»