Mit einer blauen Mütze fing es an
06.04.2023 Böckten, Kultur, PorträtCharles Brauer schreibt Geschichten aus seinem Leben nieder
In seinem Buch mit dem Titel «Die blaue Mütze» blickt Schauspieler Charles Brauer auf seine 88 Lebensjahre und seine nur wenig kürzere Laufbahn zurück. Das Buch bringt uns das Nachkriegs-Deutschland näher … und auch das ...
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In seinem Buch mit dem Titel «Die blaue Mütze» blickt Schauspieler Charles Brauer auf seine 88 Lebensjahre und seine nur wenig kürzere Laufbahn zurück. Das Buch bringt uns das Nachkriegs-Deutschland näher … und auch das Oberbaselbiet.
Jürg Gohl
Er mochte sie eigentlich gar nie, diese himmelblaue Samtmütze. Die Kopfbedeckung hatte sein Vater Karl Knetschke seinem «undeutsch» getauften Sohn Charles bei einem Fronturlaub aus Frankreich heim ins zerbombte Berlin gebracht. Fast 80 Jahre später dient sie dem Buch des bald 88-jährigen Charles Brauer als Titelgeberin. «Die blaue Mütze» ist dieser Tage im Zytglogge-Verlag erschienen und umfasst 200 Seiten. Die ersten 150 davon hat Charles Brauer selber verfasst, die letzten 50 stammen aus der Feder seines Freundes Thomas Blubacher. Der Basler Autor und Theaterwissenschaftler fasst das Leben und die Laufbahn von «Charlie», wie er ihn konsequent nennt, nochmals faktisch zusammen.
Doch zurück zu dieser auffälligen blauen Mütze und zum kleinen Charles Knetschke, wie er damals hiess und der erst später auf Anraten von Erik Ode, des ersten Fernseh-Kommissars Deutschlands, den Nachnamen seiner Mutter übernahm. Der junge Bursche trug sie an einem kalten Märztag 1946 in Berlin-Mitte. Sie wird sein Leben in die Bahnen lenken, die ihn in die Filmwelt und auf die Bühne sowie schliesslich privat ins Oberbaselbiet führen sollten.
«Alles begann an einer Strassenbahnhaltestelle», lautet der erste Satz des ersten Kapitels. Denn der elfjährige Steppke, wie sich Brauer im Buch nennt, fällt dank seiner Mütze dem Regisseur Gerhard Lamprecht gleich zwei Mal auf. Lamprecht ist auf der Suche nach jugendlichen Schauspielern für seinen Nachkriegsfilm «Irgendwo in Berlin». Der Streifen steht am Anfang einer illustren und vor allem langen Karriere.
Gründgens und Krug
Unbestritten verdankt Charles Brauer vor allem seinem Engagement als «Tatort»-Kommissar Peter Brockmöller gemeinsam mit Manfred Krug seine Bekanntheit. Ihm ist bewusst, dass er hinterher Angebote erhielt, die er hauptsächlich seinen «Tatort»-Auftritten zuschreibt, und selbst heute fällt, wenn er bei einem Auftritt dem Publikum vorgestellt wird, der Name des Kultkrimis mit jeder Garantie. Doch hauptsächlich prägen seine Rollen auf den grossen Bühnen seine Karriere. Brauer arbeitete dabei etwa auch eng mit Gustaf Gründgens, dieser streitbaren Überfigur des deutschen Theaters der Naziund Nachkriegszeit, zusammen.
Gründgens wie Krug widmet er in seinem Buch ein spezielles Kapitel. Bei Krug ist zwischen den Zeilen herauszulesen, dass die neue Zusammenarbeit eher frostig-distanziert anlief. Doch spätestens als sie ihre gemeinsame Liebe zur Musik und speziell zum Jazz – auch ihr räumt Brauer ein Kapitel ein – entdeckten, entwickelt sich zwischen den beiden «swinging cops» mit ihren unfassbaren Einschaltquoten eine enge Freundschaft. Krug starb vor sechs Jahren. «Und ich werde ihn bis ans Ende meiner Tage vermissen», schliesst Brauer das Kapitel über seinen Freund ab.
Selbstverständlich fallen noch viele weitere grossen Namen aus der deutschen Film- und Fernseh-Geschichte. Skandalöses oder eine späte Abrechnung finden sich aber nicht, kein Gejammer, nicht zu viel Privates, keine Prinz-Harry-Attitüden. «Nein», sagt Brauer, «ich habe es nicht nötig, nochmals für Aufregung zu sorgen. Meine Zeit im Rampenlicht habe ich längst hinter mir.»
Im zerbombten Berlin
Doch es geht in diesem Buch nicht nur um ein dreiviertel Jahrhundert deutsche Bühnen- und Filmgeschichte. Charles Brauer schildert auch seine Jugendjahre als Sohn eines etwas zwielichtigen Vaters, der früh in den Krieg geschickt wurde, und einer besorgten Mutter, die sich früh trennten. Sie sollte 101 Jahre alt werden. So wuchs er in ärmlichen Verhältnissen auf. Er kannte Hunger und Kälte. «Der sprichwörtliche Löffel im Mund, mit dem man geboren wird, war bei mir wirklich nicht aus Edelmetall», schreibt Brauer auf Seite 127 und später in Anlehnung an Gottfried Benn, einen Lieblingsdichter: «Niemand spielte bei uns Chopin.»
Die Erinnerungen an die Flucht vor den Bomben der Alliierten in den Luftschutzkeller wurden bei ihm durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wieder an die Oberfläche gespült, und immer wieder verleiht er im Buch seiner tiefen Verachtung für Nazis, Rassisten und Kriegstreiber unverhohlen Ausdruck. Dank seines kritischen Wesens findet sogar die «Volksstimme» im Schlussteil von Thomas Blubacher Erwähnung. Seine Ansprache zum 1. August, die er gemeinsam mit seiner Ehefrau Lilot Hegi 2021 in Sissach hielt, sei keine «Wellness-Rede» gewesen, wird zitiert.
Seit 1985 lebt Brauer in Böckten. Doch schon viel früher, nämlich als 20-Jähriger, führte ihn sein Weg erstmals in die Nordwestschweiz, als ihn Egon Karten für eine Hauptrolle im Sartre-Stück «Die schmutzigen Hände» nach Basel rief. Bei seiner Ankunft habe er, wie er im Kapitel «Gipfeli» jenen Moment des 30. Dezembers 1955 beschreibt, erstaunt auf die Stadt geblickt und gesehen, was er lange nicht mehr wahrgenommen hatte: « …nichts Zerstörtes, keine Trümmer, prächtige Häuser, alte Bäume».
Tatsächlich nimmt das Oberbaselbiet in seinem Buch und in seinem Leben eine zentrale Rolle ein. 1985 zog er zu seiner damaligen Partnerin Lisi Mangold nach Böcken, ihr Heimatdorf. «Mit ihren Beinen fest auf der Erde und ihrer Phantasie hoch in den Wolken» sei sie eine «wundersame und sehr besondere Kollegin» gewesen, schreibt er über die Schauspielerin und Weggefährtin, die 1986 an Krebs starb. Mit Lilot Hegi, seiner dritten Ehefrau, zog Charles Brauer innerhalb von Böckten in ihr neues Haus am Rand des Dorfs, das die gleiche Farbe trägt wie die Mütze 40 Jahre zuvor: Blau.
77 Jahre auf der Bühne
Dort ist im vergangenen Sommer auch das Buch niedergeschrieben worden. An seinem Lieblingsplatz, an dem er gerne in die Natur blickt und sich auch einmal eine Abendzigarre gönnt, verfasste er mit seinem Füllfederhalter Seite um Seite seiner Geschichten, die zugleich seine Geschichte sind. Seine Frau tippte sie danach ab, und Thomas Blubacher lektorierte das Werk schliesslich. «Ich glaube, dass er nicht viel berichtigen musste», sagt Brauer gegenüber der «Volksstimme» mit einem gewissen Stolz auf sein Gedächtnis.
Weil der Wahl-Oberbaselbieter bereits mit elf Jahren erstmals schauspielerte, konnte er vor zwei Jahren tatsächlich auf eine unglaubliche 75 Jahre lange Karriere zurückblicken. Die Pandemie verdarb dem Paar Brauer/Hegi allerdings, das Jubiläum in einer gebührenden Form zu begehen. Das nun vorliegende Buch darf aber nicht als Schlussstrich interpretiert werden. Zum einen hat Charles Brauer in diesem Jahr bereits das Hörbuch zum jüngsten Roman von John Grisham eingelesen – eine seiner weiteren gefragten Spezialitäten – und wird in der kommenden Zeit in verschiedenen Städten in Deutschland aus seinem Buch vorlesen. Zum andern denkt er offen über eine Rückkehr auf die Bühne des Ernst-Deutsch-Theaters in Hamburg im Dezember nach, in der Stadt also, in der er als Schauspieler am längsten gewirkt hat.
Und sein letztes Kapitel der «blauen Mütze», das vielversprechend mit «Neuanfänge» überschrieben ist, endet mit dem Satz: «Und doch habe ich schon damit begonnen, den Text von Mitch Alboms ‹Dienstags bei Morrie› zu lernen …»
Charles Brauer: «‹Die blaue Mütze› und andere Geschichten aus meinem Leben».
Zytglogge-Verlag, Basel, 2023.
200 Seiten
Vom Spielen und Sprechen zum Schreiben
jg. Beim Lesen von «Die blaue Mütze» befällt einen schnell einmal das Gefühl, Charles Brauer bei einem Kaffee oder einem Glas Wein gegenüber zu sitzen und ihm zuzuhören. Seine Sprache ist eingängig. Ihn befielen, wie er sagt, auch nie Zweifel, dass er als reproduzierender Künstler am Schreiben scheitern könnte. «Auch wenn ich nicht ganz so viele Bücher verschlinge wie meine Frau, so lese ich schon aus beruflichen Gründen sehr viel.» Die Reihe von Autoren, die ihn begeistern, ist lang, er wolle aber keinen von ihnen kopieren. «Aber ich sehe mich nicht als Schriftsteller», betont er. Und seine Frau Lilot Hegi ergänzt, dass Charles Brauer mit seiner Füllfeder leidenschaftlich gerne lange Briefe verfasse und schon deshalb im gepflegten Schreiben geübt sei.
Bevor er die «Geschichten aus meinem Leben», die er nicht als Autobiografie verstanden wissen möchte, niederschrieb, hatte er bereits zwei Anfragen zu einem Buch über sich selber abgelehnt. Für ihn steht fest: «Ein zweites Buch wird es nicht geben.»