«Wir treten neben der staatlichen Sozialhilfe auf»
10.03.2023 Baselbiet, GesellschaftAusgefragt: «Wir treten neben der staatlichen Sozialhilfe auf»
Die private Non-Profit-Organisation Winterhilfe unterstützt Menschen im Kanton Baselland, die von Armut betroffen sind. Jolanda Eggenberger ist seit dem 1. März neue ...
Ausgefragt: «Wir treten neben der staatlichen Sozialhilfe auf»
Die private Non-Profit-Organisation Winterhilfe unterstützt Menschen im Kanton Baselland, die von Armut betroffen sind. Jolanda Eggenberger ist seit dem 1. März neue Geschäftsführerin.
Andreas Bitterlin
Frau Eggenberger, wie ausgeprägt ist die Armut im Baselbiet?
Jolanda Eggenberger: Der Kanton Baselland erarbeitete im Herbst 2022 ein Armutsmonitoring, das die Anzahl von 16 000 Menschen ausweist, die von Armut betroffen sind. Das sind rund 6 Prozent der Bevölkerung.
Wann ist jemand arm?
Arm ist eine Person, deren Einkommen unter 60 Prozent des Durchschnittseinkommens in der Region liegt. Das ist eine relative Armut, früher galt die Definition für Armut, dass nicht genügend Essen und Kleider zur Verfügung standen. Heutzutage ist die Armut oft nicht ersichtlich. Zum Beispiel, wenn ein Kind kein Hobby ausüben kann, weil das Einkommen der Erziehungsberechtigten hierfür nicht reicht.
Gemäss Jahresbericht 2021/2022 haben Sie im vorangegangenen Geschäftsjahr von 894 Gesuchen deren 486 mit Leistungen im Gesamtbetrag von rund 627 000 Franken bewilligt und 408 Anträge abgelehnt. Wie kommen diese Entscheidungen zustande?
Die schriftlichen Gesuche, die bei uns eingehen, werden geprüft nach Einkommenssituation der Gesuchstellenden, ob die gesetzlichen Leistungen ausgeschöpft wurden, ob eine Notsituation vorliegt, die nicht voraussehbar war und jemand keine Rückstellungen machen konnte, und ob unsere Unterstützungsleistungen eine nachhaltige Wirkung erzielen können. Sehen wir, dass Gesuchstellende bereits Prämienverbilligung oder Mietzuschüsse erhalten, wissen wir, dass die finanziellen Verhältnisse sehr eng sind. Das sind die Kriterien, die eine Unterstützung rechtfertigen.
In welcher Form kann diese Unterstützung erfolgen?
Menschen können beispielsweise dank eines Überbrückungskredits von uns finanziell wieder Fuss fassen. Wir können bei Bedarf einmal den Mietzins oder angesichts der steigenden Energiekosten die Nebenkosten übernehmen. Oder ein anderes Beispiel: Ein Knabe hat sich mit einem sehr netten Brief bei uns bedankt, weil er mit unserem finanziellen Beitrag, den seine alleinerziehende Mutter nicht aufbringen konnte, in einem Klub Skateboard fahren lernen konnte.
Warum braucht es Ihr privates Engagement? Sind Armutsbekämpfung und Sozialhilfe nicht Kernaufgaben des Staats?
Wir treten neben oder vor der staatlichen Sozialhilfe auf. Wir übernehmen keine Unterstützungskosten, die dem Staat obliegen. Das Armutsmonitoring stellte fest, dass rund ein Drittel der Personen, die eigentlich Sozialhilfe zugute haben, sich nicht bei den Sozialhilfebehörden meldet, etwa aus Scham, weil sie nicht abhängig sein wollen von einer Behörde oder aus anderen Gründen. Hier können wir eingreifen.
Gleichzeitig mit Ihrem Stellenantritt wurde eine «Erneuerungskur» der Winterhilfe Baselland angekündigt. Was wird neu?
Wir werden vermehrt die Öffentlichkeit ansprechen, indem wir beispielsweise bei den Gemeindebehörden in Erinnerung rufen, was die Winterhilfe leisten kann. In diesem Zusammenhang werden wir auch die Sozialen Medien vermehrt nutzen, damit uns auch jüngere Menschen kennenlernen. Wichtig ist uns auch, dass wir neue Spenderinnen und Spender finden. Wir finanzieren alle unsere Aktivitäten ausschliesslich mit Spenden.
Sie waren vor Jahren Moderatorin der Sendung «Meteo» am Schweizer Fernsehen. Warum haben Sie das Rampenlicht verlassen?
Die Region Basel ist seit jeher der Lebensmittelpunkt von mir und meiner Familie. Ich bin viele Jahre nach Zürich gependelt. Nach meiner Zeit bei «Meteo» arbeitete ich weiterhin beim Schweizer Fernsehen in Zürich, beim «Kassensturz», und dies auch morgens früh und abends spät. Irgendwann war ich dieser Pendlerei überdrüssig und verliess nach zehn Jahren das Fernsehen, denn es geht mir gut auch ohne Rampenlicht. Jetzt lebe und arbeite ich im Baselbiet.
Was hat Sie jetzt zum Wechsel als Co-Geschäftsführerin von Curaviva Baselland, die 32 Trägerschaften von Alterszentren, Pflegeheimen und Pflegewohnungen vertritt, zur Winterhilfe Baselland bewogen?
Ich habe schweren Herzens bei Curaviva Baselland gekündigt. Der Hauptgrund ist, dass ich bei Curaviva Institutionen vertrat und jetzt bei der Winterhilfe näher bei den Menschen bin und ihnen direkt Unterstützung zukommen lassen kann. Auf diese Art den Menschen zu helfen, empfinde ich als sehr schönen Inhalt meiner Arbeit.
Sind Seniorinnen und Senioren besonders von Armut betroffen?
Im Kanton Baselland zeigt das Armutsmonitoring, dass die Seniorinnen und Senioren nicht überwiegend stark von Armut betroffen sind. Es gibt natürlich ältere Menschen, die unsere Unterstützung gut gebrauchen können. Vor Kurzem haben wir einer Seniorin einen Teil des Hörgerätes finanziert. Mehr armutsgefährdet sind hingegen Alleinerziehende und Jugendliche, die in armutsbetroffenen Familien aufgewachsen sind. Sie geraten in eine Art Spirale der Geldknappheit und haben dadurch einen schwierigen Start ins Erwachsenenleben.
Warum heisst ihre Organisation Winterhilfe?
Wir sind 365 Tage im Jahr aktiv und nicht nur im Winter. Auf unserem Flyer steht «Frühlings-, Sommer-, Herbst-, Winterhilfe». Die Winterhilfe wurde aber während der Weltwirtschaftskrise 1936 gegründet, und damals manifestierte sich die Armut primär im Winter, wenn Nahrungsmittel und warme Kleider fehlten. Den Namen Winterhilfe behalten wir bei, weil er so in der Bevölkerung verankert ist und wir beim Spendensammeln besser erkennbar sind.
Zur Person
abi. Jolanda Eggenberger (47) ist seit 1. März neue Geschäftsführerin der Winterhilfe Baselland. Sie ist ausgebildete Geisteswissenschaftlerin, verfügt über ein CAS in NPO- und Verbandsmanagement der Universität Fribourg und bringt langjährige Erfahrung als Verbandsmanagerin von Curaviva Baselland sowie im Print- und Fernseh-Journalismus und in der Unternehmenskommunikation mit. Sie wohnt mit ihrem Mann und den beiden Töchtern in Bubendorf.