Novelle aus dem Leben von Walter Eglin – erzählt nach einer wahren Begebenheit

Thomas Schweizer

1. Kapitel
Ein 70-jähriger Mann mit einem Rucksack voller Steine, einem Geologen- und einem Steinmetzhammer sowie einem Meissel geht langsam die Strasse nach Känerkinden hinauf. Es ist eine warme, stille Sommernacht Mitte Juli 1965. Noch immer ist er verärgert und aufgebracht ob der vergangenen Stunden, die er auf dem Polizeiposten von Läufelfingen verbringen musste. Die Ruhe, die auf der Oberbaselbieter Landschaft liegt, kann sein Gemüt nicht besänftigen. Was für ein Rüpel war dieser junge Dorfpolizist gewesen, denn er hatte ihn, den Künstler Walter Eglin, nicht erkannt, oder nicht erkennen wollen. Es war eine unerhörte Begegnung und eine unwürdige Behandlung, die er sich hatte gefallen lassen müssen.

Aber allem Missmut und allen Widerwärtigkeiten zum Trotz ist seine Lebensfreude ungebrochen. Er ist noch gut zu Fuss, obwohl ihm die Schmerzen in den Gelenken, die bis ins Innere des Körpers ausstrahlen, zu schaffen machen. Oder war es umgekehrt? Nein, es muss der Rheumatismus sein, glaubt er.

In solchen Momenten denkt er gerne an Ausstellungen zurück, die für ihn immer zum Erfolg wurden und seine Laune erhellen. Seine jüngste fand in Zofingen statt. Im vergangenen April war das, und seine Holzschnitte und Bilder beeindruckten wie immer die zahlreichen Gäste, die sich in der drei Wochen dauernden Ausstellung eingefunden hatten.

Am Wegrand und auf den Feldern sieht er in der Dunkelheit nur undeutlich die Gräser und Blumen, Schafgarben, Nesseln und da und dort Mohnblumen im wieder hoch stehenden Gras. Die Heuernte war längst vorbei, die letzten Kirschen wurden gepflückt und bereits hatten die Bauern begonnen, das Getreide zu ernten. Bald würden auf den Kornfeldern nur noch die Stoppeln zu sehen sein, eine willkommene Beute für die Krähen.

Im Tal auf der Passstrasse über den Unteren Hauenstein war ihm der Polizist begegnet. Und da hatte der Schalk im Nacken wieder einmal das Zepter übernommen. Was in der Folge allerdings geschah, hätte er nie für möglich gehalten. Es wurde eine unerfreuliche Begegnung, die noch lange an ihm nagte.

Der Aufstieg macht Walter Eglin Mühe, obwohl er lange Streifzüge über die Felder und durch die Wälder gewohnt ist, auch wenn sich die gesundheitlichen Beschwerden oft wie ein drohendes Unheil bemerkbar machen.

Wie durch einen Schleier läuft in seinem Kopf immer wieder der Film dieser dummen, lächerlichen, aber auch verhängnisvollen Szene ab. Wütenden Schrittes strebt er Känerkinden zu, wo er aufgewachsen war und lange gewohnt hatte. Doch er hat zwiespältige Gefühle seinem Heimatdorf gegenüber. Die Baupläne für ein neues Haus wurden vereitelt, weil ihm niemand das dazu benötigte Land verkaufen wollte.

Die Bauern im Dorf waren misstrauisch auf einen, der sich als Künstler ausgab und auf den Feldern nach Steinen suchte, statt ihnen bei der Arbeit behilflich zu sein. Auch heute Nachmittag musste er wieder eine Demütigung erfahren.

Mit schnellen Schritten durchquert er das Dorf. Auf der anderen Seite wird der Abstieg weniger mühsam sein. Wenn er dann in Diegten im Dorf unten ist, hat er linkerhand nur noch den Weg Richtung Eptingen einzuschlagen. Sein Ziel ist das äusserste Haus von Diegten, «Weidli» genannt, ein ehemaliges Bauernhaus, das er vor 25 Jahren kaufen konnte und das seit 1941 das Zuhause seiner Familie war.

In diesem Haus bietet ihm die grosse Scheune genügend Platz für seine Arbeiten. Das Atelier in Känerkinden war eine einfache Bruchbude und viel zu klein für das Grossprojekt, mit dem er damals jahrelang beschäftigt war. Er hatte die Scheune im «Weidli» zu einem geräumigen Atelier ausgebaut, wo er die einzelnen Platten für das monumentale Mosaik im Haupteingang des Kollegiengebäudes der Universität am Petersplatz bis zum Abtransport lagern konnte.

Im Jahr 1942 steckte er mitten in den anstrengenden Arbeiten für dieses Mosaik. Die einzelnen Platten brachte dann ein Freund regelmässig auf einem Lastwagen nach Basel. Dort galt es dann, sie zum Gesamtbild zusammenzufügen.

«Nicht einmal von diesem Mosaik, einem meiner Hauptwerke, hat der Polizist je gehört. Was für ein Banause!», denkt der Künstler und sieht sich wieder auf der Passstrasse unterhalb Läufelfingens, wie er strammen Schrittes dem Dorf Buckten zustrebt.

2. Kapitel
Es ist ein heisser Tag im Juli 1965. Auch der frühe Abend bringt Walter Eglin nicht die erhoffte Kühlung. Zudem drückt der Rucksack schwer am Rücken. Er ist froh, bald in Buckten unten zu sein. Aber dann hat er noch den Aufstieg nach Känerkinden vor sich. Hinunter nach Diegten wird ihm keine Mühe machen. Er glaubt, rechtzeitig zu Hause zu sein.

Wie er nun die Strasse unterhalb von Läufelfingen überquert, sieht er ein Auto herannahen. Es ist ein Polizeiwagen. Erschrocken rennt er von einer Strassenseite zur andern und noch ein Stück dem Rand entlang. Am Steuer sitzt der junge, unerfahrene Dorfpolizist Werner Iselin, der eben seinen Dienst in Läufelfingen angetreten hat.

«Das muss der Dieb sein, der dort neben der Strasse davonrennt und den wir schon seit zwei Tagen suchen», sagt sich der Polizist und wittert einen ersten grossen Fang auf dem Weg zu höheren Weihen und zum Ruhm. Seine Frau wird stolz auf ihn sein, wie sie auf alles stolz ist, was er als staatliche Autorität im Dorf während ihrer noch jungen Ehe und noch nicht lange im Amt schon geleistet hat.

Der Polizist meint den Dieb, der vor ein paar Tagen das Geld aus der Kasse bei der Ruine Homberg geplündert hatte. Vom Kerl mit seiner Dreistigkeit fehlt jede Spur, aber viele werden verdächtigt. Im Dorf hoffen alle, dass bald Licht in diese trübe Affäre komme.

Gelänge dem jungen Polizisten das Aufspüren und Verhaften des Diebes, wäre er schlagartig als besonders eifriger Gesetzeshüter bekannt geworden. Die entsprechende Meldung würde bestimmt auch in den Zeitungen, vor allem in der «Volksstimme», die im oberen Baselbiet weit verbreitet ist, zu lesen sein. So stellt sich der junge Werner Iselin das Ganze in seinen Wunschträumen vor.

Der Dorfpolizist hält an, steigt aus und begibt sich zu diesem seltsamen Wanderer, zu einem alten Mann mit einem prallgefüllten Rucksack. Walter Eglin geht etwas ausser Atem langsam weiter.

«Halt! Bleiben Sie stehen. Was ist in Ihrem Rucksack drin?»

«Steine.»
«Steine? Was soll der Scherz? Kommen Sie mit auf den Posten.»

«Ich komme mit, wenn Sie mir zuerst sagen, wie die Gräser hier am Strassenbord heissen.»

«Ein Verrückter», denkt der Polizist, «der wird mich noch kennenlernen.» Und so schnauzt er den Fremden an: «Was erlauben Sie sich? Machen Sie keine dummen Scherze, sonst verklage ich Sie wegen Beamtenbeleidigung. Jetzt kommen Sie mit mir zusammen auf den Polizeiposten.»

«Wozu denn?», fragt der Alte. «Ich werde doch noch dem Strassenrand entlang gehen und die Blumen bewundern dürfen.»

Der Polizist, der auf derartige Antworten zwar geschult wurde, aber jetzt in der praktischen Arbeit überfordert scheint, reagiert heftig, bleibt aber vorerst anständig: «Sagen Sie mir jetzt Ihren Namen. Also, wie heissen Sie?»

«Hm», macht Walter Eglin, «Sie sagen mir zuerst die Namen dieser Gräser und Blumen hier am Strassenbord. Dann komme ich vielleicht mit.» Eine solche Aufmüpfigkeit ist der Dorfpolizist nicht gewohnt, ja sie scheint ihn zu überfordern. Sie macht ihn zuerst sprachlos, dann besinnt er sich auf seine Wichtigkeit und befiehlt in barschem Ton: «Öffnen Sie Ihren Rucksack.»

«Nein, den öffne ich erst, wenn Sie mir endlich sagen, wie die Blumen hier an der Böschung heissen.» «Verdammt, der Fremde ist hartnäckig», denkt der junge Polizist und seine Nerven beginnen zu flattern. «Unverschämter Kerl», schnauzt er sein Gegenüber an. Der scheint seine Spielchen aber zu geniessen. Doch nicht mehr lange.

Von Läufelfingen her nähert sich jetzt ein Fuhrwerk mit einem älteren Bauern auf dem Bock. «Sieh an, der Künstler mit einem Polizisten», ruft er den beiden zu. «Was ist denn hier los? Du würdest uns auch lieber auf den Feldern helfen, Walter, statt nutzlos dem Herrgott den Tag abstehlen.»

Der Bauer lacht verächtlich und zieht mit seinem Fuhrwerk weiter. Polizist Iselin hat gut zugehört. Jetzt schaut er wieder interessiert auf den Rucksack. «Wollen Sie mir nicht wenigstens mal den Rucksack öffnen, dann wären alle Missverständnisse geklärt?», fragt er scheinheilig höflich den Künstler.

«Ja, wie Sie wollen», entgegnet er. Ihm hat die Begegnung mit dem Bauern zugesetzt. Sie zeigt ihm, dass er in weiten Kreisen der Landbevölkerung immer noch keine Anerkennung findet. Hat er denn nicht für Känerkinden und das ganze Baselbiet viel Ehre eingelegt?

Der Polizist schaut nun interessiert in den Rucksack und als Erstes sieht er den Geologenhammer. «Ha, hab ich’s doch gewusst!», ruft er nun triumphierend aus. «Das ist ein Einbrecherwerkzeug. Damit haben Sie die Kasse auf der Homburg aufgeschlagen und das Geld entwendet. Wo haben Sie es versteckt? Heraus damit.»

«Ich habe keine Kasse aufgebrochen und kein Geld entwendet. Das ist ein spezieller Hammer, den ich beim Steinesuchen brauche», sagt Walter Eglin jetzt ruhig und denkt, damit sei die Sache endlich erledigt. Aber Polizist Werner Iselin lässt nicht locker. Er ist ein hartnäckiger junger Ordnungshüter.

«Der Bauer hat Sie einen Nichtsnutz genannt», sagt er laut, «und jetzt kommen Sie mit auf den Posten, verstanden?» Damit ergreift er den schmächtigen Mann und bugsiert ihn mit ein paar Griffen ins Polizeiauto. Er will losfahren.

«Halt!», ruft Eglin, «und den Rucksack lassen Sie einfach liegen? Ich gehe nicht ohne Rucksack nach Hause.»

«Das Diebesgut, richtig», denkt der Polizist und gelobt, dass ihm ein solcher Lapsus nicht noch einmal widerfahren soll. Er stellt den schweren Rucksack mit dem Corpus delicti neben sich auf den Beifahrersitz. Natürlich hat er auch die vielen Steine bemerkt, was ihn ordentlich irritiert.

«Was wollen Sie eigentlich mit den Steinen», fragt er barsch.

«Ist das verboten? Überhaupt geht Sie das gar nichts an.»

«Vielleicht doch.» Die Stimme des Polizisten hat einen drohenden Ton angenommen. Dann fährt er los. Auf dem Polizeiposten will er keine Zeit verlieren und beginnt gleich mit dem Verhör. «Jetzt sagen Sie mir endlich, wie Sie heissen und woher Sie kommen.»

«Ich bin ein freier Bürger und gehe meiner Arbeit nach.»

«Was für einer Arbeit?»
«Steine suchen und sie dann für Mosaiken verarbeiten.»

Der Polizist schnappt nach Luft. «Steine suchen? Für Mosaiken? Ist das ein Beruf? Sie halten mich wohl für blöd, aber das werden Sie noch bereuen. Ich kann Sie auch wegen Beamtenbeleidigung anzeigen.»

«Ich halte Sie nicht für blöd, nur für einen Unwissenden, der nicht einmal die Gräser und Blumen kennt. Und meine drei Glasfenster in der Kirche Läufelfingen werden Sie auch nicht kennen.»

Der Polizist ist nahe daran, die Contenance zu verlieren und wird lauter: «Was schwatzen Sie da für einen Unsinn? Jetzt sagen Sie mir augenblicklich, wie Sie heissen.»

«Das sage ich Ihnen nicht, wenn Sie so unhöflich sind.»

«Sie sind unhöflich!» «Nein!» «Doch!» «Nein. Ich zeige Sie auch wegen Widerstand gegen die Behörden an. Haben Sie mich verstanden?»

Der Künstler scheint die Szene zu geniessen. Mit einem schelmischen Lächeln schüttelt er nur den Kopf. Doch: Ist er nicht auch zu weit gegangen? Einen jungen, unerfahrenen Polizisten zur Weissglut zu treiben, kann verheerende Folgen haben. Der Künstler beschliesst, das Spiel zu beenden. Doch es ist bereits zu spät.

Mit jedem Wort ist die Temperatur im Raum gestiegen. Der Polizist reckt sich aus dem Sessel, pflanzt sich bedrohlich vor dem armen schmächtigen Mann auf und stützt die Hände breit auf dem Tisch ab. Er beginnt erst leise zu sprechen und wird dann mit jedem Wort lauter und eindringlicher.

«Sie sind zu weit gegangen, Herr …, Herr …, Herr Steinemann.» Er muss über sein Wortspiel beinahe lachen. Das hätte die Groteske entspannen können. Doch der Polizist hat diese Chance nicht wahrgenommen. Im Gegenteil.

Er unternimmt einen weiteren Versuch und spricht seinem Gegenüber direkt ins Gesicht: «Zum letzten Mal, jetzt sagen Sie mir endlich Ihren Namen, verdammt noch mal.» Dieses letzte Wort ist beinahe an der Zimmerdecke oben zerplatzt.

Walter Eglin hat sich umbesonnen und will die Posse weitertreiben. Nichts mehr mit Nachgeben. Er will wissen, wie es weitergeht und wie der Polizist reagiert. Er bleibt ganz ruhig und provoziert ihn weiter. Zudem liebt er das Katzund-Maus-Spiel, besonders mit diesem ungehobelten Kerl, der seine obrigkeitlichen Allüren einfach nicht ablegen kann.

Er liebt das Spiel genauso, wie jenes vor vielen Jahren, als er für die militärische Inspektion auf dem Schulhausplatz von Diegten seine Frau mit einem Leiterwagen geschickt hatte, in den er seinen Tornister und die Militärklamotten gepackt hatte.

Aber da der Offizier Eglins Marotten kannte, hatte er souverän reagiert, Nachsicht geübt und nur gesagt: «Ist gut, liebe Frau, aber sagen Sie doch Ihrem Mann, er soll schnell selber vorbeikommen. Ich hätte da eine Frage wegen seiner Mosaiken.»

So elegant und überlegen wie der Offizier kann der schäumende Polizist diese heikle Staatsaffäre natürlich nicht lösen. Die Szene wird nur noch schlimmer, denn jetzt sagt der Künstler zu ihm: «Wenn Sie meinen Namen wissen wollen, fragen Sie einfach den Dorfpfarrer.»

«Den Dorfpfarrer? Den D-o-r-f-p-f-a-r-r-e-r, sagen Sie, so was raten Sie mir? Sind Sie noch bei Trost? Was soll ich mit dem Dorfpfarrer? Ich glaube, ich kann Ihren Fall alleine lösen.»

Der Polizist ist am Verzweifeln. Nur gut, dass ihn seine Frau nicht in diesem Zustand antrifft. Doch wie es der Zufall will: Die Türe geht auf und… seine Frau erscheint. Schüchtern sagt sie:

«Ich bring dir etwas zu essen, Werner, da es doch wieder spät wird. In letzter Zeit ist das ja oft so, fast jeden Abend.»

«Ist gut, Marie, danke, spät wird es, ja, denn ich bin erst am Anfang eines wichtigen Verhörs.» Mit einer energischen Handbewegung weist er ihr die Tür. «Ja, ja, die Verhöre. Muss anstrengend sein», seufzt Marie und verschwindet wieder.

Der Polizist will seine Macht demonstrieren, packt den pfiffigen Künstler am Kragen und sagt: «Ich sperr Sie in den Keller, wenn ich den, na ja, den Dorfpfarrer angerufen habe.» Er setzt sich an den Bürotisch, ergreift das Telefon und ruft Pfarrer Bruno Balscheit an.

«Pfarramt Läufelfingen, Balscheit.»
«Hören Sie, Herr Pfarrer, bei mir ist ein Dieb, der seinen Namen nicht nennen will. Ich soll Sie fragen, denn Sie wissen scheinbar, wie er heisst. Er behauptet nämlich, er hätte drei Glasfenster für die Kirche in Läufelfingen gemacht. So ein Spinner.»

Pfarrer Balscheit hört die aufgeregte Stimme Iselins und weiss bereits, um wen es sich bei diesem Spinner handeln muss. Er kennt Eglin gut und weiss um seine Kauzigkeit.

«Bleiben Sie ruhig, belästigen Sie Ihren Manno nicht weiter. Ich bin gleich bei Ihnen.»

3. Kapitel
Jetzt naht die grosse Stunde von Pfarrer Bruno Balscheit. Zum Zeitpunkt des dramatischen Geschehens auf dem Polizeiposten in Läufelfingen sitzt er bereits seit 18 Jahren im Landrat. Für das Amtsjahr 1958/59 hatte man ihn sogar zum Präsidenten des Kantonsparlaments gewählt. Es waren genau jene Jahre, während denen Walter Eglin in der Dreifaltigkeitskirche in Worms sein grossflächiges und leuchtendes Mosaik, die welthistorische Szene «Luther vor dem Reichstag zu Worms 1521», geschaffen hatte. Er erinnert sich noch gut an die Einweihung, der er in der wieder aufgebauten Lutherkirche in der Nibelungenstadt Worms am Rhein beigewohnt hatte.

Pfarrer Balscheit ist eine geachtete Persönlichkeit. Sein Wort gilt und seine Predigten sind tiefgründig und doch für alle gut verständlich. Kein Wunder, sind Gottesdienste in Läufelfingen stets gut besucht. Er ist ein leutseliger, aber bestimmt auftretender Gottesmann. Er imponiert durch sein Wissen und seine Redekunst. Oft fällt er durch seine belegte Stimme und sein fremdländisches, durch seine Herkunft Ostpreussens geprägtes Baselbieterdeutsch auf. Aber er ist ein Prediger mit einer sonoren Stimme, die selbst das Strassburger Münster zum Wanken gebracht hätte.

Als Sozialdemokrat sitzt er in Liestal als einflussreicher Politiker im Kantonsparlament, im Landrat. Er mischt sich gern ein, sagt unverblümt, was er für richtig hält, und seine Meinung hat Gewicht. Als Landrat und Vertreter des Oberbaselbiets gehörte er zusammen mit Ernst Boerlin und Karl von Blarer zu den prominenten Fürsprechern des selbständigen Baselbiets. Später werden die drei allerdings von einer jüngeren Garde unter Führung von Paul Manz, auch einem Pfarrer – bevor er Regierungsrat wurde –, in den Hintergrund gedrängt. Die ersten führenden Kämpfer gerieten plötzlich in Verdacht, sehr baselfeindlich zu sein. Das verstimmte besonders Bruno Balscheit, der auch Privatdozent an der Universität Basel war und in der Stadt viele Freunde hatte.

Bruno Balscheit verlässt augenblicklich sein Haus und rennt zum Polizeiposten. Es liegt etwas in der Luft. Zwei, drei Dorfbewohner, denen er auf der Hauptstrasse begegnet, schauen ihm verwundert nach. Was ist nur in unseren Pfarrer gefahren?

Kaum bei Iselin angekommen, fragt der Pfarrer laut: «Wo ist Ihr Mann?»

«Ich habe ihn zur Sicherheit in den Keller gesperrt.» Jetzt erhebt sich die Stimme Balscheits so laut, dass alle Wände wackeln und sich der arme Polizist am liebsten unter den Tisch verkrochen hätte:

«Lassen Sie den Mann sofort frei. Das muss Walter Eglin sein, kein anderer. Wer denn hätte die Glasfenster in unserer Kirche machen sollen, wenn nicht er? Zudem ist er ein grosser Mosaikkünstler, ein Baselbieter. Aber den Namen werden Sie noch nie gehört haben, nicht wahr? So machen Sie schon!»

Walter Eglin hat einen besonderen Stein im Brett beim Pfarrer. Vor einigen Jahren konnte der Künstler während eines Winterhalbjahres Israel besuchen. Bruno Balscheit ist ein grosser Freund dieses aufstrebenden Landes im Vorderen Orient. Immer wieder verteidigt er Israel und wird nicht müde, diesen Staat zu rühmen. Daher hatte er mit grossem Interesse das Tagebuch von Walter Eglin gelesen, das dieser während seines Aufenthaltes verfasst und begeistert vom Alltag der Israelis berichtet hatte. Vom Künstler-Kibbuz Bait Hashita aus hatte er mit einem Begleiter weite Teile des Landes bereist, unter anderem die Kupferminen des Königs Salomon. Von dort durfte er sogar einige Steine mit nach Hause nehmen. Das Tagebuch gab er nach seiner Rückkehr einigen interessierten Leuten zum Lesen, so auch Pfarrer Bruno Balscheit.

«Auf was warten Sie noch?», herrscht der Pfarrer, längst ungeduldig geworden, den Polizisten an. Doch Werner Iselin lässt sich vorerst nicht beeindrucken, denn er will seine Autorität nicht aufs Spiel setzen. Was würde auch seine Frau von ihm denken. Er schüttelt bedächtig den Kopf und macht sonst keinen Wank. Doch sein Verhalten kam beim Pfarrer nicht gut an. Die Impertinenz des Polizisten einer Respektperson gegenüber, wie sich Bruno Balscheit auch als Politiker ganz selbstverständlich sieht, bringt den Pfarrer endgültig auf die Palme:

«Jetzt Himmel Herrgott Sakrament.»
«Aber, aber, Herr Pfarrer.»
«Nun ja, manchmal rutschen mir solche deftigen Ausdrücke heraus. Aber…», er macht eine kleine Pause, um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verschaffen, «was glauben Sie denn, wer ich bin und wer Walter Eglin ist? Und Sie? Sie sind ein unerfahrener kleiner Staatsdiener dagegen. Sie sind wie ein Hund, der seinem eigenen Schwanz hinterherjagt, um dem Frauchen zu imponieren. Das funktioniert bei mir nicht, verstehen Sie? Sie uniformierter Landjäger!»

In seiner ganzen Bonhomie nähert er sich gefährlich dem Polizisten, der jetzt zu zittern beginnt, dem Pfarrer abwehrend die Hände entgegenstreckt und kleinlaut sagt: «Schon gut, schon gut.»

Pfarrer Balscheit hat sich richtig in Rage geredet. Er kann heftig und unhöflich reagieren, sich aber auch gleich wieder beruhigen. Das ist sein Naturell, und das wissen alle, die mit ihm zu tun haben.

Endlich steigt der Polizist in den Keller hinunter und bringt Walter Eglin wieder ans Tageslicht zurück. Der Pfarrer und der Künstler sehen sich an und beginnen, wie zwei Komplizen, gleich zu lachen. Schallend der Pfarrer, verhalten und verlegen der Künstler. Der Polizist steht belämmert da und versteht die Welt nicht mehr.

Nun sagt der freundliche, aber gerne auch streitlustige Bruno Balscheit: «Mensch Walter, was machst Du auch immer für Kapriolen. Es genügt doch, Grosses versucht zu haben. Nein, Du hast Grosses geschaffen. Aber wir wollen mit diesem Anfänger, mit dem jungen Mann nachsichtig sein. Er hat doch noch keine Ahnung, wie man mit Menschen umgehen muss, kein Einfühlungsvermögen.»

Walter Eglin zuckt verlegen mit den Schultern und verwirft die Hände. Er und der Pfarrer sind einen Moment unschlüssig. Es ist spät geworden. Wie soll dieser Tag nur enden? Schliesslich zeigt Eglin auf seinen Rucksack und sagt: «Ich gehe schnell ins Wirtshaus gegenüber. Habe den ganzen Tag noch nichts Rechtes gegessen.»

«Ist gut, Walter, ich warte auf Dich. Dann begleite ich Dich ein Stück Deines Weges.» Der Pfarrer ist froh, dass er noch ein paar Minuten mit dem Polizisten allein sein kann. «Der Neuling war einfach übermotiviert», sinniert er. «Kann ich ja verstehen, ist oft so bei jungen Leuten, die es besonders gut machen wollen. Jetzt muss ich aber mithelfen, dass sich der psychische Schaden, der dem Künstler entstanden ist, in Grenzen hält.»

Der heftige Ausbruch vorhin ist Bruno Balscheit inzwischen gar nicht recht. Ein Pfarrer sollte sich nicht so gehen lassen. Der Polizist aber, dem es auch um seine Selbstachtung geht, ruft laut zur Tür: «Aber kommen Sie ja wieder, hauen Sie nicht ab, sonst bekomme ich einen tüchtigen Rüffel von meinen Vorgesetzten in Liestal. Und für Sie würde sich das Abhauen schon gar nicht lohnen.»

Da muss Pfarrer Balscheit lachen. «Keine Sorge, Herr Iselin. Ich bin dann auch noch da, wenn Sie Schwierigkeiten bekämen.» «Der Abend geht doch noch gut aus», denkt er. Ein versöhnliches Ende scheint sich anzubahnen. Er hat sogar seinen Spass an dieser Szene. Ja, sie ist ihm eine willkommene Unterbrechung seiner Predigtvorbereitung. Immer wieder gerät er als Pfarrer ins Stocken, entweder muss er ein Zitat aus der Bibel oder aus einem anderen Buch nachschlagen und dann die richtigen Formulierungen finden.

Nicht umsonst sind seine Predigten weitum berühmt und die Kirche stets gut gefüllt. Eine «ausverkaufte Vorstellung» jeden Sonntag, könnte man sagen. Alle wollen wissen, was ihnen der streitbare Gottesmann, der so aufbrausen und gewaltig predigen kann, wieder zu sagen hat. Einverstanden müssen sie ja nicht mit ihm sein.

«Ist gut», sagt der Polizist kleinlaut ins Telefon. Er hat seinen Chef in Liestal angerufen und ihm die dumme Sache erklärt. Dann sagt er zum Pfarrer, und sein Ton ist wieder drohender geworden: «Aber das Ganze wird für Sie ein Nachspiel haben.»

«Allwä scho, und wenn, dann für Sie», sagt der Pfarrer. «Dafür werde ich in der Polizeidirektion schon sorgen. Aber nächsten Sonntag kommen Sie in den Gottesdienst. Ich werde die drei Glasfenster in der Kirche in meine Predigt einbauen. Damit stelle ich Sie nicht bloss, aber lernen können Sie als Polizist allemal etwas. Lernen, was für ein grosser Künstler Walter Eglin ist, der vielseitigste im ganzen Baselbiet, lernen von der bildenden Kunst, lernen, wie wir mit Menschen umgehen wollen und lernen von der Kunst, die Gnade Gottes in den Begabungen der Menschen zu erkennen.»

«Ich werde es mir überlegen, Herr Pfarrer», sagt der Polizist. «Nüt isch!», ruft ihm der Pfarrer über den Tisch zu. «Sie erscheinen. Das ist ein Marschbefehl, Herrgott-Himmel-Donnerwetter-Noch einmal!»

4. Kapitel
Die Stimmung ist wieder angespannt. Der Pfarrer versucht, mit dem Polizisten ein vernünftiges Gespräch zu führen. Der Abend darf nicht mit Misstönen ausklingen.

«Er ist halt manchmal etwas spleenig, unser Walter Eglin. Er hat etwas Kauziges an sich. Das will er gar nicht verbergen, im Gegenteil, er macht sich gerne einen Spass daraus, wenn man ihn nicht gleich als Künstler erkennt.» Der Pfarrer hat auch gleich bemerkt, dass Eglin nicht ganz unschuldig an diesem turbulenten Ende seiner heutigen Wanderung ist. «Aber jetzt mal ehrlich: Haben Sie Walter Eglin tatsächlich nicht erkannt?»

Auch der Polizist hat sich wieder beruhigt. Er ist froh, dass sich der Pfarrer jetzt gemässigt hat und sanft ist. Er nimmt ihn sogar ein bisschen in Schutz, glaubt er aus seinen Worten herauszuhören, indem er versucht, diese verhängnisvolle Begegnung zu erklären.

«Sehen Sie», sagt er dann zum Pfarrer, «ich komme aus Basel, wohnte im Unterbaselbiet in der Nähe der Stadt und bin neu hier. Nach einer Feinmechanikerlehre habe ich mich für einen Ausbildungskurs für angehende Polizisten angemeldet. Nach der Brevetierung hat man mir die Stelle als Dorfpolizist in Läufelfingen angeboten. ‹Erfahrungen sammeln› hiess es, ‹sicher wird es nicht Ihre Lebensstelle sein.› In der Freizeit habe ich viel Sport getrieben, was ja für meinen Beruf bestimmt kein Nachteil war.»

«Natürlich nicht. Da blieb keine Zeit, um sich auch noch für Kunst zu interessieren, nicht wahr?», meinte der Pfarrer im versöhnlichen Ton. «Aber Sie kommen aus Basel, der Name Iselin deutet schon darauf hin, eine wichtige Kunststadt. Da müssten Sie doch in der Schule von Kunst und Künstlern gesprochen haben.»

«Kaum», erwidert der Polizist, «im Zeichnungsunterricht natürlich, heute nennt sich das Fach, glaube ich, ‹Bildnerisches Gestalten›. Da ging es vor allem um die Perspektive, die gute Flächenaufteilung, die Farben und das Umsetzen eines Auftrags.»

«Sie haben ja mehr mitbekommen, als Ihnen bewusst ist», lobt der Pfarrer, «das ist doch schon ein guter Ansatz, um erste Eindrücke von Kunst zu erlangen. Aber Kunsterziehung müsste in den Schulen einen viel höheren Stellenwert haben.»

«Meinen Sie?», fragt der Polizist, «vielleicht haben Sie recht. Selber war ich nie ein begabter Zeichner. Mich interessierten die Handarbeiten, die mechanischen Vorgänge und natürlich der Sport.»

«Verstehe», nickt der Pfarrer, «aber ein Grundwissen von Kunst gehört zur Allgemeinbildung.» Er merkt plötzlich, dass er ins Dozieren gerät. Das will er stets vermeiden. Er sagt seine Meinung, aber missionieren will er auf keinen Fall.

Dennoch, er kann es nicht lassen, den jungen Werner Iselin auf ein wichtiges Kunstwerk aufmerksam zu machen. «Sie als ehemaliger Basler sollten das grösste Mosaik der Schweiz kennen», beginnt der Pfarrer einen kleinen Exkurs in die Welt der Kunst.

«Das grösste Mosaik? In Basel etwa?», fragt der Dorfpolizist. «Dänk woll», antwortet der Pfarrer. «Sie können es auch heute noch Tag und Nacht besichtigen. Es ziert den ganzen Aussenbereich des Haupteingangs des Kollegiengebäudes unserer Universität. Müsste etwas aufgefrischt werden, das schon.»

«Ich bin halt kein Gschdudierter und kenne die Uni nicht», entgegnet Iselin.

«Aber Sie wissen, wo der Petersplatz ist. Dort steht das Gebäude und dort finden Sie das Mosaik ‹Sendung›, über 100 Quadratmeter gross ist es.»

«Wenn ich das nächste Mal in Basel bin, will ich es mir mal ansehen, versprochen», sagt der Polizist.

Der Pfarrer ist jetzt in Fahrt gekommen und doppelt nach:

«Gut so, und wissen müssen Sie auch, dass Walter Eglin das grösste Natursteinmosaik in Deutschland geschaffen hatte.»

«Sagenhaft», meint der Polizist, «das hat unser Künstler geschaffen? Wo steht dieses Mosaik denn?»

«In Worms am Rhein in der Dreifaltigkeitskirche. Das war im Hochmittelalter und in der beginnenden Neuzeit eine wichtige Reichsstadt, nördlich von Mannheim gelegen. Dort fand 1521 die welthistorische Begegnung vor dem jungen Kaiser Karl dem Fünften zwischen Luther und Dr. Eck, dem Vertreter des Erzbischofs von Trier, statt. Luther sollte seiner neuen, revolutionären Haltung im christlichen Glauben abschwören. Was er bekanntlich nicht getan hat.»

«Sie erzählen mir da lauter Geschichten, die ich mal im Religionsunterricht ein bisschen gehört, aber dann wieder vergessen habe», bekennt freimütig Werner Iselin.

«Ja, das kenn ich», entgegnet der Pfarrer, «ist auch nicht weiter schlimm. Erwachsene Leute finden oft erst später wieder einen Zugang zum Glauben. Andere stehen ihm eher gleichgültig gegenüber. Unsere Aufgabe ist es, den Glauben zu verbreiten und den Gläubigen ihren christlichen Sinn zu stärken.»

«Ja», sagt Iselin etwas beschämt. Dann kehrt für einen Moment Stille ein. «Übrigens», bricht der Pfarrer das Schweigen, «Walter Eglin hat das Mosaik als Auftragsarbeit Ende der Fünfzigerjahre geschaffen. Dargestellt sind auf dem Mosaik 36 Personen, in der Mitte der Kaiser, links und rechts die Begleiter der beiden Kontrahenten, und im Vordergrund gross und grossartig der kostbar gekleidete Dr. Eck und der schlichte Mönch Luther in seiner Kutte. Eine unglaubliche Arbeit.»

Endlich kommt Walter Eglin vom Wirtshaus zurück. Er hat eine Käseschnitte gegessen und dazu ein Glas Blauburgunder getrunken. Die Wirtin hat sich kurz zu ihm gesetzt und sich nach seinem Befinden erkundigt. Das hat er sehr geschätzt, obwohl er nicht sehr gesprächig war. Die Wirtin hat wohl gemerkt, dass da etwas mit ihm nicht stimmt, aber als gute Gastgeberin hat sie ihn nicht weiter bedrängen wollen. Sie kennt ihn schon seit vielen Jahren.

«Kommen Sie gut nach Hause, Herr Eglin, und kehren Sie wieder einmal bei uns ein», hat sie gesagt, und der Künstler hat gelächelt und genickt.

«Ich will mich jetzt auf den Weg machen», sagt er zu den beiden, die am Tisch sitzen und auf ihn gewartet haben. «Es ist aber schon spät, Walter, schaffst Du es noch bis ins Weidli? Du kannst bei uns übernachten und am nächsten Morgen ausgeruht weiterziehen», sagt derPfarrer.

«Nein, nein, die frische Abendluft tut mir gut.» «Wie Du willst, Walter, aber dann begleite ich Dich jetzt bis zum Ausgang des Dorfes.»

Der Künstler nimmt seinen Rucksack, hängt ihn umständlich auf den Rücken und zusammen mit dem Pfarrer verabschiedet er sich etwas verlegen und mit einem kurzen Gruss vom Polizisten.

Der Künstler und der Pfarrer ziehen lächelnd von dannen und lassen den verdutzten und zusammengesunkenen Polizisten, dem so übel mitgespielt wurde, ratlos im Büro hocken. Dann ruft er seine Frau an:

«Marie, komm schnell. Du musst mir beistehen. Soeben hat mich ein Verrückter mit unserem Pfarrer – unserem Pfarrer! – verlassen. Dieses Irrenhaus halte ich nicht mehr aus.»

Der Künstler und Pfarrer gehen angeregt plaudernd durchs Dorf. «Etwas bedrückt meinen Freund», denkt Bruno Balscheit. Als sie die letzten Häuser erreichen, verabschiedet sich der Pfarrer und lässt Walter Eglin allein weiterziehen. «Gib Sorg», mahnt er ihn, «du hast noch einen langen Heimweg.»

«Aber das bin ich doch gewohnt», lächelt der Künstler und mit einem Kopfnicken zieht er jetzt alleine weiter. Der Pfarrer sieht ihm noch lange nach und geht dann wieder ins Dorf zurück. In Gedanken versunken glaubt er allmählich das merkwürdige Bedrücktsein von Walter Eglin zu verstehen. Das Verhalten des Polizisten muss ihm wieder einmal gezeigt haben, wie schlecht man ihn doch kennt. Und das trotz der vielen Kunstwerke mit den vielen Aufträgen, die er überall im Kanton ausführen konnte. Er muss unter der fehlenden Anerkennung vonseiten der Behörden leiden. Noch nie hat er einen Kulturpreis bekommen. Noch nie öffentliche Anerkennung erfahren. Er spricht nicht oft davon, aber Bruno Balscheit weiss von Andeutungen, die er ihm bereits gemacht hatte. Seit Ende Januar ist er in Kontakt mit einer jungen Frau aus Basel. Niemand weiss davon, der Künstler geniesst aber die gemeinsamen Gespräche und Besuche von Ausstellungen. Bei ihr findet er die Bewunderung, die ihm zusteht. So jedenfalls deutet der Pfarrer die Anspielungen in vertraulichen Gesprächen.

Die Empfindlichkeiten – sie gehören zu vielen Künstlern und sind den Kunstliebhabern sehr vertraut – überlagert Walter Eglin mit seinem Schalk, seiner Kauzigkeit und seinem schelmischen Verhalten. Wer ihn nicht richtig kennt, reagiert gerne unwirsch, und das wiederum macht den Künstler traurig und verschlossen. Er glaubt, seine künstlerischen Leistungen würden nicht genug gewürdigt.

Im Polizeiposten und im Dorf Läufelfingen aber nimmt alles wieder seinen gewohnten Gang. Werner Iselin ist nach Hause gegangen, Pfarrer Bruno Balscheit macht sich wieder an seinen Predigttext und im Wirtshaus wird nach dem heissen Tag viel Bier ausgeschenkt.

5. Kapitel
Seinen gewohnten Gang? Jedenfalls ist es für Walter Eglin eine andere Welt, in der er sich bewegt. Es ist die Welt der Kunst. Wie er soeben bitter erfahren musste, ist es eine Minderheit, die sich für Kunstwerke und ihre Künstlerinnen und Künstler interessiert.

Endlich ist Eglin nach einem langen Tag und einem Rückmarsch, der ihm mehr zugesetzt hat, als er sich eingestehen will, wieder in Diegten eingetroffen. Unten auf der Hauptstrasse biegt er nach links ab und strebt seinem Haus, dem «Weidli», zu. Seine Frau Anna wird sich bereits Sorgen um ihn gemacht haben, obwohl sie seine Abwesenheiten und die damit verbundenen unterschiedlichen Zeiten der Heimkehr längst gewohnt ist. Er freut sich, sie wieder zu sehen, und vielleicht sind auch ihre zwei erwachsenen Buben wieder einmal zu Besuch im «Weidli».

Auch seine zwei Katzen warten schon längst auf ihn. Er hat sie gern und sie ihn. Bei seiner Familie und den beiden anhänglichen Tieren findet er jene Aufmerksamkeit und Anerkennung, die er in der Öffentlichkeit und bei den Behörden vermisst. Wie der Künstler Walter Eglin haben auch Katzen einen eigenwilligen Charakter. Sie lassen sich nicht zähmen, und ihre Zuneigung muss man sich verdienen.

Es ist längst Nacht geworden, eine laue Sommernacht, als er im dunklen Grün der Matten und Felder sein Zuhause erreicht. Er sieht mitgenommen aus. Seine Schmerzen haben ihn auf dem ganzen Rückweg geplagt, jetzt sind sie so stark geworden, dass er sich gleich hinlegen muss. Seine Frau bringt ihm eine grosse Tasse Milch, spricht aber nicht viel. Sie kennt ihren Mann und weiss, dass er dann zu erzählen beginnt, wenn der Moment da ist.

Nach einer ungewohnt langen Zeit auf dem Sofa fragt er nach seinen Söhnen und beginnt endlich, seiner Frau die abenteuerlichen Vorgänge in Läufelfingen zu erzählen. Wie schäbig er vom Polizisten behandelt worden sei und wie ihn nur Pfarrer Bruno Balscheit aus den Klauen des übereifrigen Ordnungshüters befreien konnte.

«Wenigstens entschuldigen hätte sich der junge Unflat bei mir können», sagt Walter Eglin und seine Stimme wirkt brüchig und resigniert. Das Ausruhen hat seine Schmerzen, seinen Rheumatismus, kaum gelindert.

6. Epilog
Walter Eglin musste sich im September 1964 in Spitalpflege begeben und sich einer schweren Operation unterziehen. Es war nicht der Rheumatismus, wie er glaubte, sondern die inneren Organe im Bauch, die ihm immer stärker werdende Schmerzen bereiteten.

Am Vorabend der Operation schrieb er seine Gedanken zur Kunst nieder. Es sollte sein künstlerisches Vermächtnis werden. Er sehnte sich in sein Atelier zurück und an die Arbeit für seine Kunst. Ein Leben lang, ein entbehrungsreiches Leben lang hatte er sich als Künstler durch alle Widerstände und alle Widerlichkeiten gekämpft. Unermüdlich war er an der Arbeit, und sein künstlerisches Gesamtwerk stellte sich später als das vielseitigste aller Baselbieter Kunstschaffenden heraus.

«Das Unsichtbare sichtbar zu machen, das ist wahre Kunst.» So lautet einer der Kernsätze in seinem Vermächtnis. Ob ihm das immer gelungen ist, fragt er sich. Er ist nicht sicher, ja, er zweifelt. Was wir Aussenstehende und Bewunderer seiner Werke aber mit Sicherheit wissen, ist die Tatsache, dass Walter Eglin sein ganzes Leben der Kunst gewidmet hat. Als wahrer Künstler hat er nur für seine Kunst gelebt und ihr alles untergeordnet.

Was für ein Gesamtwerk hinterlässt er uns! Während Jahrzehnten war der schmächtige, unscheinbar wirkende und bescheiden auftretende Mann unermüdlich am Arbeiten. Nur sein tiefer Gottesglaube machte seine grosse Kunst möglich, eine Kunst, die von ihm schier unmenschliche Kräfte gefordert hatte.

Nach der Operation dauerte es noch einige Wochen, bis er endlich, ungeduldig geworden, geschwächt und abgemagert, das Spital wieder verlassen konnte. Seine Kräfte nahmen ab, aber seine Schmerzen liessen nicht nach. Ein letztes Aufbäumen wagte er mit einer neuen Kunstgattung, den Monotypien. Gelang es ihm vielleicht hier, das Unsichtbare in Vollendung sichtbar zu machen? Den allmählichen Zerfall des Körpers, die Zerbrechlichkeit des Daseins in beklemmend wirkenden, oft schwierig zu deutenden Bildern sichtbar zu machen?

Walter Eglin ist am 3. Februar 1966 in seinem Heim im «Weidli» in Oberdiegten verstorben. Seine treue Frau und seine zwei Söhne waren bei ihm. Die Nachricht verbreitete sich schnell im ganzen Kanton und löste grosse Betroffenheit aus.

Am Radio hörte auch eine junge Frau, eine angehende Hauswirtschaftslehrerin, vom Tod von Walter Eglin. Die Nachricht stimmte sie traurig und in Gedanken zogen nochmals die Monate seit Januar 1965 an ihr vorüber. Wie bereichernd waren doch die Begegnungen mit dem grossen Künstler.

Aber das ist eine andere Geschichte.

Thomas Schweizer ist ein Baselbieter Autor und Kulturvermittler. Er kennt das Werk und Leben des Künstlers Walter Eglin bestens, und hat bereits mehrere Schriften dazu verfasst.

Der Künstler, der Pfarrer und der Polizist

Image Title

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Ja. Ich benötige ein Abo.

Article

Image Title