Arlesheim | Emil Frey – ein fiktives Interview mit dem bisher einzigen Baselbieter Bundesrat

An Heiligabend vor 100 Jahren ist Emil Frey (1838–1922) gestorben. Kürzlich sind zwei Bücher über den bisher einzigen Bundesrat aus dem Baselbiet erschienen. Wir haben die Autoren der beiden Werke gebeten, Emil Frey in einem fiktiven Interview mit Originalzitaten aufleben zu lassen.

Gregor Saladin und Markus Wüest

Herr Frey, nach Ihrer unsteten Jugend mit mehreren Schulwechseln zwischen Therwil, Basel und Waldenburg gingen Sie nach Jena an ein landwirtschaftliches Institut. Weshalb reüssierten Sie auch dort nicht?
Emil Frey: Es dauerte eben nicht lange, bis das Studentenleben, welches in der alten Burschenstadt noch vorzugsweise blühte, mich in seinen Strudel hineingezogen hatte.

Sie reisten dann mit Ihrem Cousin Theodore in die USA, hofften im Bundesstaat Illinois als Farmer Erfahrungen zu sammeln, liessen sich aber im Bürgerkrieg von der Unionsarmee rekrutieren. Warum?
Ich stamme aus einer alten Soldatenfamilie, deren Blut auf manchen Schlachtfeldern Europas geflossen ist. Die Aussicht, einen frischen, fröhlichen Krieg mitzumachen, hatte daher für mich einen grossen Reiz. Ich will durchaus nicht leugnen, dass dies ein Grund war, der mich veranlasste, in das von Friedrich Hecker gegründete Regiment einzutreten.

Also keine hehren Absichten? Es ging Ihnen gar nicht um den Kampf gegen die Sklaverei?
Doch, ich war ebenso empfänglich für die grosse Sache der Republik, für den Gedanken der Erhaltung der Vereinigten Staaten. Zudem war ich wie jeder gebildete Europäer ohne Weiteres ein Abolitionist, das heisst ein Anhänger der Abschaffung der Sklaverei.

Sie zogen in den Krieg, erlebten 1863 die Schlacht bei Gettysburg hautnah, gerieten dort in Gefangenschaft. Nach Ihrer Wahl in den Bundesrat wurden Sie ab 1890 Vorsteher des Militärdepartements. Eigentlich erstaunlich. Verabscheuten Sie nach Ihren Erfahrungen nicht alles Militärische?
Der Krieg ist eine Prüfung, eine sehr rückhaltlose und schauerliche Prüfung allerdings, aber ich kann es mir nicht als Glück für die Menschheit vorstellen, dass die Möglichkeit einer solchen Prüfung einfach gestrichen würde. Nichts gewährt mir und meinem Leben eine währschaftere Befriedigung, als dass ich mich herumgeschlagen habe auf der Mensur – also im Studentenleben – und im Krieg.

Kaum waren Sie im Bundesrat, haben Sie die Schweizer Armee stark aufgerüstet. Würden Sie sich als Kriegsgurgel bezeichnen?
Ich habe den Krieg gesehen und weiss, was er für unerhörte Ansprüche an ein Land stellt.

Auch wenn man Ihnen Ihre Erfahrung auf dem Schlachtfeld zugesteht: Mussten Sie sich so negativ über Friedensfreunde äussern?
Sie sind die Evangelisten der Vaterlandslosigkeit. Der Antimilitarismus ist der Vampir, der auf unserer Brust sitzt und unser bestes Blut in sich saugt.

Starke Worte. Warum geraten Sie in dieser Frage geradezu in emotionale Wallungen?
Es gibt frevelhafte Kriege, darüber besteht kein Zweifel. Aber der Krieg an sich ist kein Frevel. Frevel dagegen ist es in meinen Augen, den kriegerischen Sinn des Volkes zu vernichten, der aufrechterhalten werden muss, wenn es uns ernst ist, unser Vaterland zu verteidigen.

Angesichts des Krieges in der Ukraine ist in der Schweiz die Diskussion um die Neutralität wieder aufgeflammt. Sie haben dazu eine dezidierte Haltung.
Ich war immer ein Vertreter einer bewaffneten und differenzierten Neutralität. Im Notfall muss die Schweiz, wenn sie angegriffen wird, eine Allianz mit einem anderen Land eingehen können. Eine solche Allianz ist zwar ein Übel, aber eines, zu dem wir nur greifen werden, um das grösste aller Übel von uns abzuwenden, den Untergang der Unabhängigkeit. Um es etwas pathetisch zu sagen: Darum lasst uns, eingedenk der Taten unserer Väter, bereit sein, wie sie, und unser Pulver trocken halten!

Eine erstaunliche Entscheidung war, dass Sie die erpresserische Rücktrittsdrohung des späteren Generals Ulrich Wille als Chef der Kavallerie angenommen haben.
Oberst Wille hat va banque gespielt und den gesamten Bundesrat zu einer Kapitulation vor dem Waffenchef der Kavallerie zwingen wollen. Auch nur einen Augenblick mit der Annahme der Demission zu zögern, wäre eine unverzeihliche Schwäche des Bundesrates, ein schwer mehr gutzumachender militärischer und politischer Fehler gewesen.

Um nochmals auf Ihre Erfahrung in den USA zu sprechen zu kommen: Wie erlebten Sie eigentlich die Amerikaner damals, in Ihren jungen Jahren?
Ihre Hauptvirtuosität ausser dem Stehlen und dem Beten war Spucken, Schneuzen und Räuspern …

Kein Wunder, störte Sie das. Sie haben immer viel auf Form gegeben, richtig?
Ja. Ich betrachte die guten Umgangsformen als eine der Blüten wahrer Kultur, als eine Äusserung des Schönheitssinnes, und nach meinem Begriff ist das Gesetz der Schönheit, banal aufgefasst, auch das Gesetz des Guten.

Apropos Form: Wie haben Sie es geschafft, bis ins hohe Alter fit zu bleiben?
Ich verwende jeden Tag wenigstens vier Stunden zur Erhaltung und Stärkung meiner Gesundheit. Ich nehme jeden Morgen, direkt aus dem Bett heraus, ein Bad, nachher eine kalte Dusche und eine viertelstündige Abreibung. Dann folgt ein Spaziergang von 45 Minuten bis zu einer Stunde. Nach der Rückkehr mache ich sehr sorgfältig Toilette, frühstücke sodann. Im Verlaufe des Tages wird geturnt und nach eineinhalb bis zwei Stunden wird marschiert oder geritten.

Nach Ihrer Rückkehr in die Schweiz im Sommer 1865 begannen Sie im Baselbiet eine politische Karriere. Sie wurden Landschreiber, Regierungsrat, ja sogar Nationalrat des Kantons Baselland. Was bedeutet Ihnen die Demokratie?
In der Demokratie schlummert, in ihr erwacht die Sehnsucht des Volkes nach dem höchsten Ideal des Lebens. In ihr liegt aber auch fest und tief begründet der endliche Sieg des Guten, die endliche Befreiung von den Fesseln der Armut und der Gemeinheit.

Demokratie bedeutet auch, gelegentlich auf der Seite der Minderheit zu stehen und Niederlagen an der Urne ertragen zu müssen. Das fiel Ihnen nicht immer leicht. Vor allem in Ihrer Zeit im Militärdepartement.
Es gehört eine felsenfeste Überzeugung von der Notwendigkeit der Gesetzgebung durch das Volk dazu, um angesichts eines missliebigen Volksvotums an der Demokratie nicht irre zu werden.

Kommen wir zu ein paar politischen Themen, die Ihnen in Ihrer Laufbahn neben dem Militärischen wichtig waren. Sie haben sich als Landrat, Regierungsrat, Bundesrat und auch nach Ihrem Rücktritt für sozial Schwächere eingesetzt. Weshalb?
Als junger Regierungsrat musste ich auf dem Morgenspaziergang von Liestal nach Schönthal mit ansehen, wie die blassen und oft kränklichen Kinder nach langer Nachtarbeit die Fabrik verliessen. Beim Anblick dieser jugendlichen Jammergestalten fasste mich ein unendliches Mitgefühl und ich dachte an die künftige Generation. So reifte in mir der Entschluss zur Tat.

Nach Ihrem Rücktritt als Bundesrat haben Sie weitsichtig Sozialwerke verlangt, wie wir sie erst heute kennen, zum Beispiel die AHV oder die Arbeitslosenversicherung.
Es gibt ein Recht auf Arbeit, wie es ein Recht gibt, zu leben und zu atmen.

Das klingt jetzt, mit Verlaub, etwas gar abstrakt. Aber wenn man Ihren Lebensweg verfolgt, wird rasch klar, dass Sie stets ein offenes Ohr für einen gewissen sozialen Ausgleich hatten, nicht wahr?
Die schrankenlose Freiheit hat zu gewaltigen wirtschaftlichen Gegensätzen geführt. Das bisherige System bedeutet doch nichts anderes als Krieg aller gegen alle. Es müssen wieder ethische Grundsätze zur Geltung kommen. Die Passivität des Staates hat wirtschaftliche Übelstände ermöglicht, deren Gewicht auf allen Volksklassen lastet.

Hatten Sie je Sympathie für sehr linke, ja vielleicht sogar kommunistische Ideen?
Der Kommunismus ist ein hassenswertes Ding und eine Bedrohung des öffentlichen Friedens, aber die Verbindung des Grosskapitals mit der Habsucht und der Geldgier, welche die Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit im öffentlichen Leben eines freien Staates unterhöhlen, ist nicht minder gefährlich als der Kommunismus der unterdrückten und verzweifelten Armut, welche, bis zum Äussersten gebracht, durch Unbill und Ungerechtigkeit, roh anstürmt gegen die Zitadelle der Ordnung.

Wenn wir Sie zum Schluss noch nach Ihrem Privatleben fragen dürfen, Herr Frey. Ihre Frau, Emma Kloss aus Liestal, ist jung gestorben, sie liess Sie mit fünf kleinen Kindern zurück. Was bedeutete sie Ihnen?
Kein Misston, kein Misstrauen störte unseren Seelenbund. Meine Frau war nicht schön nach den Regeln der Kunst. Viele fanden sie unbedeutend, manche sogar hässlich. Meinem Herz und meinem Auge war sie schön, liebreich. Von ihrer klaren Stirn leuchtete mir der Friede entgegen, der heitere Frieden ihrer unschuldigen Seele. Ihre grossen, strahlenden Augen verkündeten mir ihre Liebe und Güte.

Sie mussten danach als alleinerziehender Vater von fünf Kindern durch das Leben gehen. Wie schafften Sie das?
Ich hielt die Kinder an, mir nachzueifern und brachte ihnen bei, dass Pünktlichkeit und Ordnung zu den Grundlagen meiner unter allerhand Mühsal und Mühseligkeit errungenen Weltanschauung gehört. Gleichzeitig war ich mir wohl bewusst, dass mir die Eigenschaften abgehen, ihnen unter meinem Dach ein heiteres, heimeliges und glückhaftes Familienleben zu schaffen. Mein herzlicher Wunsch war, dass sie dieses Glück unter einem eigenen Dach finden mögen, obgleich ich sie nicht ohne Schmerzen ziehen liess.

Die beiden neuen Bücher zu Emil Frey – ein Sachbuch und ein Roman – haben wir in der «Volksstimme» vom 9. Dezember vorgestellt.

Gesagt ist gesagt

vs. Die Antworten in diesem (fiktiven) Interview stammen allesamt aus dem Mund (oder der Feder) von Emil Frey, der 1838 in Arlesheim geboren und am 24. Dezember 1922 dort gestorben ist. Zum Teil mussten die Aussagen leicht paraphrasiert oder minim angepasst werden, grösstenteils aber wurden die Zitate eins zu eins übernommen. Hauptsächliche Quelle ist das Buch «Der Baselbieter Bundesrat Emil Frey» von Fritz Grieder, 1988 im Verlag des Kantons Basel-Landschaft erschienen, es ist nur noch antiquarisch erhältlich.

«Lasst uns unser Pulver trocken halten!»

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