«Losgefahren, als die Bomben fielen»
07.10.2022 Bezirk Sissach, Wittinsburg, GesellschaftEine Ukrainerin floh vor dem Krieg und lebt nun bei der Gemeindepräsidentin
Seit März wohnt ein ukrainisches Ehepaar bei der Wittinsburger Gemeindepräsidentin Caroline Zürcher und ihrem Mann. Alona Koval* erzählt, wie sie mit der Ausnahmesituation umgeht. Zürcher wünscht sich mehr ...
Eine Ukrainerin floh vor dem Krieg und lebt nun bei der Gemeindepräsidentin
Seit März wohnt ein ukrainisches Ehepaar bei der Wittinsburger Gemeindepräsidentin Caroline Zürcher und ihrem Mann. Alona Koval* erzählt, wie sie mit der Ausnahmesituation umgeht. Zürcher wünscht sich mehr Hilfe für Gastgebende – und plädiert für einen regionalen Sozialdienst.
Janis Erne
Frau Koval*, war der Überfall der russischen Armee auf die Ukraine für Sie überraschend? Der Konflikt schwelte bereits seit Längerem, 2014 annektierte Russland die Krim.
Alona Koval: Es gab Gerüchte und Spekulationen in den Medien, dass der Konflikt zu einem offenen Krieg ausarten könnte. Doch einerseits wollte ich nicht daran glauben. Und andererseits haben ich und viele meiner Bekannten gedacht, dass es sich um politische Machtspiele handle, um der Bevölkerung Angst zu machen. Deshalb war für mich der Kriegsausbruch durchaus eine böse Überraschung.
Sie und Ihr Mann Iura haben sich entschieden, zu fliehen. Wann haben Sie das Land verlassen?
Koval: Am 24. Februar, also am Tag, als die russische Invasion startete. Denn zu Beginn des Kriegs wurde unser Wohnort Kiew stark angegriffen. Wir hörten die Explosionen der Bomben und die militärischen Kämpfe, die in der Nähe unseres Hauses stattfanden. Das war sehr angsteinflössend und gefährlich.
Hatten Sie ein bestimmtes Ziel auf der Flucht?
Koval: Nein. Wir hatten auch keinen Notfallplan und keine gepackten Sachen für den Ernstfall. Wir fuhren einfach los, zur nächsten Grenze nach Moldawien. Dort blieben wir eine Weile, da unser Auto kaputt ging, ehe wir nach Ungarn weiterreisten. Manchmal konnten wir gratis in Hotels übernachten, die Leute waren wirklich hilfsbereit. Wegen des enormen Stresses kann ich mich aber nicht mehr an alle Details der Flucht erinnern.
Schliesslich sind Sie in die Schweiz gekommen. Haben Sie hier jemanden gekannt?
Koval: Ich habe eine Freundin, die in Basel lebt. Sie hatte uns angeboten, dass wir ein paar Nächte bei ihr bleiben können und sie uns beim Übersetzen sowie beim weiteren Vorgehen helfen würde. Deshalb kamen wir schliesslich hierhin.
Frau Zürcher, Sie und Ihr Mann haben sich früh als Gastfamilie zur Verfügung gestellt.
Caroline Zürcher: Genau. Als der Krieg ausbrach, haben wir uns bei Campax eingetragen. Die Organisation hat Schutzbedürftige an Gastfamilien vermittelt. Mitte März schliesslich, just am Tag nach dem unerwarteten Tod unserer jüngsten Katze, erhielten wir vom Bundesasylzentrum die Anfrage, ob wir ein Ehepaar mit Katze aufnehmen würden.
Wie viel Zeit blieb für diese Entscheidung?
Zürcher: Etwa 10 Minuten. Die Konstellation mit Alona und Iura passte für uns als ebenfalls kinderloses Ehepaar mit Tieren.
War es für Sie von Anfang an klar, ukrainische Schutzbedürftige bei sich zu Hause aufzunehmen?
Zürcher: Ja – spätestens seit wir im Fernsehen die Bilder der Schutzbedürftigen gesehen haben. Besonders beeindruckt haben uns die Personen, die ihre Haustiere mitnahmen. Wir wussten, dass die Tiere im Bundesasylzentrum wegen der Hygienevorschriften nicht aufgenommen werden. Deshalb wollten wir helfen. Auch meine Familiengeschichte trug einen wesentlichen Teil dazu bei.
Bitte, erzählen Sie.
Zürcher: Meine Mutter war im Zweiten Weltkrieg selber auf der Flucht. Damals musste meine Grossmutter mit ihren fünf Kindern aus Ostpreussen bis nach Essen durch halb Deutschland reisen. Auf dem Weg sahen sie Leichen und sie mussten immer wieder Schutz suchen in den Bombenkellern. Von diesen Erfahrungen war meine Mutter ihr Leben lang traumatisiert. Deshalb war für mich klar, dass ich eines Tages Schutzbedürftige unterstützen werde.
Wie verlief die erste Begegnung mit Alona und Iura?
Zürcher: Sie kamen, von ihren Freunden aus Basel begleitet, zu uns nach Wittinsburg. Im ersten Moment war ich sehr erschrocken. Beide waren kreidebleich und sehr erschöpft. Ich war beeindruckt, dass sie für ihre Katze fast mehr Sachen mitnahmen als für sich selbst. Und auch darüber, dass sie Konserven dabei hatten, weil sie nie sicher waren, ob sie auf der Flucht im Wald übernachten müssen.
Koval: Für mich war es eine seltsame Situation. Alles lief sehr schnell ab. Im Asylzentrum hiess es plötzlich, dass wir in ein paar Stunden zu einer Gastfamilie umziehen sollen. Wir können uns aber glücklich schätzen, so schnell Hilfe bekommen zu haben von einer netten Familie. Trotzdem fühlen wir uns nicht als Gäste, es fühlt sich anders an. Es ist schwierig, das Gefühl zu definieren.
War es für Sie schwierig, die Hilfe einer Gastfamilie anzunehmen und bei Fremden unterzukommen?
Koval: Es ist kompliziert, auch ein halbes Jahr später noch. Vor dem Krieg hatten wir in der Ukraine ein normales Leben. Wir brauchten keine Hilfe und konnten für uns selbst sorgen. Jetzt können wir das nicht mehr.
Wie gestaltet sich das Leben miteinander?
Zürcher: Für uns ist die Anwesenheit von Alona und Iura auch eine Entlastung. Sie füttert jeden Morgen die Katzen und am Abend kocht sie wunderbar. Das entlastet mich und meinen Mann neben den beruflichen und politischen Verpflichtungen enorm. Wir können offen miteinander kommunizieren und vertrauen uns zu 100 Prozent. Als wir in die Ferien verreisten, schauten Alona und Iura zu unserem Haus und zu den Tieren.
Koval: Wir versuchen, so hilfsbereit wie möglich zu sein.
Zürcher: Und wir machen zusammen häufig Gesellschaftsspiele. Iura kann sogar schon jassen.
Frau Koval, wie sieht Ihr Alltag in der Schweiz aus?
Koval: Ich besuche einen Deutschkurs und halte Ausschau nach einer Arbeitsstelle. Mit einem Job könnten wir wieder für uns selbst sorgen. Doch es braucht Zeit, einen Platz in einem neuen Land mit einer neuen Kultur zu finden. Auch telefoniere ich täglich mit Verwandten in der Ukraine. Und natürlich lese ich die News über den Krieg. Wenn etwas Schlechtes passiert, macht man sich Sorgen.
Zürcher: In der Freizeit machen wir gelegentlich gemeinsame Ausflüge. Unsere Gäste kennen bereits verschiedene Gegenden in der Schweiz, etwa das Emmental. Alona war auch beim Treffen der Gemeindepräsidentinnen mit Bundesrätin Simonetta Sommaruga in Bern dabei.
Koval: Das war eine unglaubliche Erfahrung.
Eine passende Überleitung. Wie nehmen Sie die staatliche Unterstützung für Schutzbedürftige in der Schweiz wahr?
Koval: Die Hilfe ist gross. Wir haben alles, was wir brauchen: eine Gesundheitsversorgung, eine Versicherung, einen Platz zum Wohnen, Geld für Essen. Falls ich etwas wünschen dürfte, wäre es mehr Unterstützung bei der Jobsuche. Denn Arbeitgeber sind meist zurückhaltend mit dem Anstellen von Ukrainern. Schweizer und EU-Bürger haben Vorrang.
Die Gastfamilien sind für die Behörden unverzichtbar. Viele beherbergen und betreuen die Schutzbedürftigen länger als die anfangs von der Flüchtlingshilfe genannten drei Monate. Werden die privaten Gastgebenden alleine gelassen?
Zürcher: Anfangs dachten wir, dass uns die Flüchtlingshilfe unterstützt und ab und zu Gespräche mit den privaten Gastgebenden führt. Praktische Unterstützung vor Ort gab es jedoch nie. Das Einzige, was Campax verlangt hatte, war ein Strafregisterauszug. Und dies erst dann, als es die ersten Missbrauchsfälle gab. Später wurde schliesslich bekannt, dass die Gemeinden die Verantwortung für die Schutzbedürftigen übernehmen, was für diese ebenfalls grosse Herausforderungen mit sich bringt.
Welche genau?
Zürcher: Es ist heikel, von den Gemeinden von heute auf morgen die Bereitstellung von Wohnraum zu verlangen. Sie haben oft keine freien Wohnungen im Eigentum. Weiter fehlen – gerade im Oberbaselbiet – die professionellen Sozialdienste. Deshalb würde ich die Zusammenarbeit der verschiedenen Sozialhilfebehörden schätzen. Mehrere Gemeinden könnten sich zusammen eine Fachperson aus der Sozialen Arbeit leisten, welche die Schutzbedürftigen bei der Arbeitssuche richtig berät und mehr Tipps gibt, als es Privatpersonen und Gemeindebehörden tun können. Es braucht eine engmaschigere Begleitung – sowohl von Schutzbedürftigen als auch von Gastgebenden. Denn wenn die Privatsphäre auf Dauer eingeschränkt wird, kann es zu Konflikten kommen. Auch wir bemerken eine gewisse Müdigkeit. Seit März leben wir quasi als WG zusammen.
Ist das kantonsweit ein Problem?
Zürcher: Die meisten Unterbaselbieter Gemeinden haben professionelle Sozialdienste sowie Beratungs- und Anlaufstellen für Schutzbedürftige auf Arbeitssuche. Kleineren Gemeinden hingegen fehlen die Ressorucen für solche Dienstleistungen.
Wie könnten sich kleinere bei der Sozialhilfe zusammenschliessen?
Zürcher: Zuerst müssten die Bedürfnisse der einzelnen Gemeinden abgeklärt werden. Diese können in administrativer Hinsicht, etwa beim Verfassen von Verfügungen, oder bei der Beratung selbst liegen. So würden Schnittstellen ausgemacht. Am wünschenswertesten fände ich einen gemeinsamen Sozialdienst im Oberbaselbiet, von dem wiederum die Kesb Gelterkinden-Sissach profitieren könnte. Diese ist für 31 Gemeinden zuständig. Einige ihrer Fälle könnten freiwillig vom Sozialdienst beraten werden, ohne dass es einen Beistand braucht.
Frau Koval, wie blicken Sie in dieser schwierigen Situation der Zukunft entgegen?
Koval: Ich habe grossen Respekt davor, in der nahen Zukunft in die Ukraine zurückzukehren. Auch ohne Krieg wird es gefährlich bleiben. Jetzt wollen wir uns in der Schweiz einleben und hier einen Job finden.
Frau Zürcher, was nehmen Sie aus der Erfahrung als Gastgebende für Schutzbedürftige mit?
Zürcher: Unser Leben ist meist sehr durchgeplant – der Krieg in der Ukraine hat diese scheinbare Normalität durchbrochen. Wir schätzen es nochmals umso mehr, in der Schweiz leben zu dürfen. Und natürlich bleiben wir ein Leben lang mit Alona und Iura verbunden.
*Der richtige Nachname ist der Redaktion bekannt.
Eine schweizerisch-ukrainische «WG»
je. Alona (35 Jahre) und Iura Koval* (36) leben seit rund sieben Monaten bei Gemeindepräsidentin Caroline Zürcher (47) und ihrem Ehemann Beat Mangold (57) in Wittinsburg. Alona Koval hat einen Studienabschluss in Kommunikation, war früher als Journalistin tätig und arbeitete bis vor ihrer Flucht aus der Ukraine als Unternehmenssekretärin. Iura Koval ist Finanzanalyst. Die Juristin Zürcher ist bei der Kesb Birstal angestellt und fungiert dort als Präsidentin eines Spruchkörpers, also eines Gremiums, das Entscheide trifft.