MEINE WELT
30.09.2022 GesellschaftBerechtigte Arroganz
Eine aus dem Tessin stammende Bekannte erzählte mir, dass sie für eine Zeitung in ihrer alten Heimat eine monatliche Kolumne schreibe. «Sguardo a Nord» heisse sie, Blick nach Norden. Darin berichtet sie von Neuigkeiten, die es nicht ...
Berechtigte Arroganz
Eine aus dem Tessin stammende Bekannte erzählte mir, dass sie für eine Zeitung in ihrer alten Heimat eine monatliche Kolumne schreibe. «Sguardo a Nord» heisse sie, Blick nach Norden. Darin berichtet sie von Neuigkeiten, die es nicht über den Gotthard in den Süden schaffen, kleine Geschichten, lokale Nebensächlichkeiten, die aber den Tessinerinnen und Tessinern vielleicht helfen, die fremden Nachbarn im Norden etwas besser zu verstehen. Als sie mir davon erzählte, dachte ich, dass ich dies doch auch tun könnte, denn ich lebe ja auch fern meiner Wurzeln.
Ich könnte mit solchen Kulturerklärungstexten zum Dialog zwischen Zürich und dem Baselbiet beitragen, denn an meinem Wahlwohnort gibt es bestimmt Dinge, von denen man in meinem Heimatkanton noch nie gehört hat. Zum Beispiel vom «Zwänzgerle», einem Brauch, den man zu Ostern in Zürich pflegt, scheinbar. Ich habe ihn selber noch nie praktiziert, aber er verfügt über einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Beim «Zwänzgerle» geht es darum, dass ein Kind einem Erwachsenen ein hart gekochtes Ei hinhält. Der Erwachsene versucht dann, ein Zwanzigrappenstück so zu werfen, dass es im Ei stecken bleibt. Gelingt es, bekommt der Erwachsene das Ei, prallt die Münze jedoch an der Schale ab (was meist der Fall ist), bekommt das Kind das Geldstück.
Diese Abart des klassischen «Eiertütschens» ist in der Tat typisch zürcherisch, denn so wird hier in Zürich schon den Kindern beigebracht, wie man ohne viel Aufwand und Schweissvergiessen zu Geld kommen kann. Als ich von dieser als Brauchtum getarnten kapitalistischen Früherziehung hörte, musste ich an einen Song der Band Matterhorn Project denken, die mit «Muh!» 1985 einen Hit landete. Der Song, der mir in den Sinn kam, ist weniger bekannt. Er heisst «Gnomes of Zurich». Eine Wendung, die auf den britischen Labour-Politiker George Brown zurückgeht. So bezeichnete er in den 1960er-Jahren Schweizer Bankiers, die sich gar diskret um gewaltige und zumeist heimliche Vermögen kümmerten und diese in ihren Tresoren versteckten. Der Song beginnt mit dem Geräusch von klimperndem Geld. Das Geräusch von Zürich eben, wo ja auch das teuerste Monopoly-Feld zu finden ist: der Paradeplatz. Aber wie hiess der Paradeplatz bis ins frühe 19. Jahrhundert? Damals trug er noch einen anderen Namen, nämlich «Saumärt». Aus gutem Grund, denn dort wurde früher Vieh gehandelt. «Saumärt». Der Name würde dann und wann auch heute wieder bestens passen.
Das nächste Mal berichte ich dann von einem Kapuzenpulli, den ich unlängst an einer jungen Frau sah. Der Pulli ist ein – wohl nicht ganz offizieller – Fan-Artikel eines lokalen Schlittschuhklubs. Auf dem Rücken steht in Runenschrift: «ZÜRICH – BERECHTIGTE ARROGANZ». Ich denke, es geht dabei um so etwas wie Humor. Sicher bin ich mir aber nicht, denn diese Ressource ist hier doch eher rar gesät.
Max Küng wurde 1969 geboren und ist auf einem Bauernhof in Maisprach aufgewachsen. Heute lebt er mit seiner Familie in Zürich und ist ein landesweit bekannter Kolumnenschreiber.