140 Jahre «Volksstimme»
20.09.2022 BaselbietKunst näher an das Volk bringen
Zeitungskopf | Heute gestaltet von Kitty Schaertlin, Künstlerin aus Sissach
Mit ihren Werken und mehr noch wegen ihres Engagements in der regionalen Kunstszene ist die Sissacherin Kitty Schaertlin zur ...
Kunst näher an das Volk bringen
Zeitungskopf | Heute gestaltet von Kitty Schaertlin, Künstlerin aus Sissach
Mit ihren Werken und mehr noch wegen ihres Engagements in der regionalen Kunstszene ist die Sissacherin Kitty Schaertlin zur wichtigen Akteurin geworden. Aktuell plant sie an einer grossen Ausstellung im Ebenrain-Park in Sissach – und entwirft dazwischen einen auffälligen Zeitungskopf für die «Volksstimme».
Jürg Gohl
Zuerst fällt auf, dass hinter ihren Entwurf des «Volksstimme»-Schriftzugs eigentlich ein saftiges Ausrufezeichen gehört. Der Titel «Tell the Truth» ist grammatikalisch ja auch ein Befehl. Die Perspektivenlinien und der nach vorne geöffnete Lautsprecher lassen das Bild dreidimensional erscheinen. Die stilisierte Zeitung mit zu viel Schwarz und das düstere Rot, die einzigen verwendeten Farben, hinterlassen beim Betrachter etwas Aggressives. Kenner ihrer Kunst wissen, dass sie keine Freundin zu vieler Farbtöpfe ist.
Das Bild fällt unter den 14 künstlerisch gestalteten Zeitungsköpfen zum 140. Geburtstag der «Volksstimme» etwas aus dem Rahmen, nicht zuletzt, weil es in einem eigenwilligen Format in der heutigen Zeitung erscheint. Es ist nicht zierlich, nicht «nett». Ist es anklagend? Will Kitty Schaertlin, die dieses Logo entworfen hat, damit der «Volksstimme» gar unterstellen, es mit der Wahrheit nicht immer so genau zu nehmen?
Zeitungen wichtiger denn je
«Nein, nein», entgegnet die 60-jährige Sissacherin, «im Gegenteil.» Zuvor hat sie sich erlaubt, auf die Einstiegsfrage, was sie mit ihrem Entwurf ausdrücken wolle, gleich den Spiess umzudrehen. Sie forderte den Interviewer auf, ihr zu erzählen, was er selber aus dem Bild herauslese. Er antwortete mit den oben aufgeführten Schlagworten: eigenwillig, dunkel, Perspektive, aggressiv, zweifarbig, Ausrufezeichen.
«Mir geht es darum, aufzuzeigen, dass wir uns aktuell in einer düsteren Zeit befinden», erklärt sie und zählt die Bedrohungen auf: den unsäglichen Krieg, die Klimakatastrophe, Hungersnöte, die dauerlauernde Pandemie, die Energiekrise, der Populismus. «Da sind unabhängige Medien mit unabhängigen Journalistinnen und Journalisten von grösster Bedeutung», sagt sie, «damit wir unser Wissen nicht einseitig vom Internet beziehen und uns von ‹Fake News› ernähren.»
Natürlich ist ihr bewusst, dass die «Volksstimme» nicht ins Weltgeschehen, sondern höchstens in die Verläufe im Oberbaselbiet eingreifen kann. «Diese Aufgabe erfüllt sie definitiv», sagt die Kunstschaffende. Sie darf sich ein Urteil erlauben, ist sie doch mit Thomas Lüthi, einem früheren Journalisten, verheiratet. Vor allem aber schätzt sie, dass sich die «Volksstimme» stark um die regionale Kunst kümmert: «Man spürt, dass bereits von alters her das künstlerische Schaffen eng begleitet wurde und auch heute noch wird», sagt sie, «die Volksstimme ist kunstaffin.» «Beispiel gefällig?», fragt sie und liefert die Antwort gleich selbst: die aktuelle Logo-Aktion zum eigenen Geburtstag.
Kunst organisieren statt schaffen
Für Kitty Schaertlin ist diese Unterstützung zentral, weil sie sich immer stärker von der Künstlerin zur Kunstveranstalterin gewandelt hat. Aber ganz kann sie es doch nicht lassen. Wie kürzlich geschehen, lässt sie sich von Zeitungsporträts von Autokraten wie Putin, Erdogan und Konsorten von der heiligen Wut packen, bemalt sie rot, versorgt diese als Pralinen in einer Schachtel, versieht diese rundum mit piksenden Nadeln, und fertig ist «Das dreckige Dutzend».
Ähnlich ist die Barbie-Puppe entstanden, die auf zwei Glocken steht, die sich als Brüste interpretieren lassen. Die Puppe trägt ein T-Shirt mit der titelgebenden Aufschrift «We should all be Feminists» («Wir sollten alle Feministinnen sein.»). Das Werk fand eine berühmte Käuferin: Star-Geigerin Anne-Sophie Mutter. Doch sie schuf auch anderes: für den Sissacher Friedhof 2008 eine grossformatige, stimmungsvolle Installation etwa, und auf dem Weg zur Fluh steht ein einst überwucherter Bunker, der auf wundersame Weise immer einmal sein Äusseres wechselt …
Seit zehn Jahren ist die Sissacherin aber vor allem Kunstorganisatorin. Angefangen hat es 2012 mit der ersten von zwei Ausstellungen mit mehreren regionalen Kunstschaffenden im Lausner Tonwerk. Damals steuerte sie noch eigene Werke bei, was sie fortan unterliess. Zum einen kann dies zu Konflikten führen, zum anderen: «Für mich ist es schwer, mich voll auf mein Schaffen zu konzentrieren und parallel dazu den Kopf beim Anlass zu haben.» Sie vergleicht dabei ihre Rolle mit derjenigen eines Dirigenten, der ein Orchester leitet, um es gemeinsam zum Wohlklang zu bringen.
An der nächsten Ausstellung
Seither organisierte sie, oft zusammen mit dem Lausner Peter Thommen, Kunstprojekte. Vier Mal kuratierte sie im Palazzo in Liestal Ausstellungen. Die «Visionen 19» auf dem Dach des A22-Schönthaltunnels mit 18 Werken verschiedener Künstlerinnen und Künstler sowie 2015/16 die «Aussichten» auf dem Weg zur Sissacher Fluh waren darunter die spektakulärsten. Und «Ohne Worte» in der Psychiatrie Baselland mit 240 Bildern, Zeichnungen und Installationen von Teilnehmenden der Kunsttherapie und Kunstschaffenden ist das bisher letzte Projekt. Damit verfolgt sie unermüdlich das Ziel, regionale Kunst der Bevölkerung näherzubringen.
Längst arbeitet Kitty Schaertlin, die für ihr Engagement mit dem Baselbieter Kulturpreis 2019 in der Sparte Kunst ausgezeichnet worden ist, an einer Ausstellung mit Skulpturen und Installationen regionaler Kunstschaffender. Der Anlass wird im kommenden Frühling im Ebenrain-Park in Sissach zu sehen sein. Die Vernissage erfolgt am 7. Mai. Finanzierung, Reservation oder Kontakte mit den Hauptdarstellern sorgen dafür, dass ihr Atelier ihr mehr und mehr als Büro dient. Am wenigsten Sorgen bereitet ihr dabei die mediale Begleitung.
Zur Person
Kitty Schaertlin, Künstlerin und Kunstveranstalterin
Biografisches: Kitty Schaertlin wurde 1961 in Freiburg im Breisgau geboren. Sie wuchs in Liestal auf und lebt seit 1998 in Sissach. Ihr chinesischer Grossvater väterlicherseits, ein Architekt, und ihre Grossmutter mütterlicherseits, eine Kunstmalerin, brachten sie schon früh mit Kunst in Kontakt. Kitty Schaertlin bildete sich zur medizinischen Praxisassistentin aus, entschied sich aber 1994, freischaffende Künstlerin zu werden. Sie erlernte die Kunst autodidaktisch. Sie malt, zeichnet und schafft Skulpturen und Installationen. 2019 hat sie für ihr künstlerisches und organisatorisches Schaffen den Baselbieter Kulturpreis in der Sparte Kunst erhalten.
Wichtigste Projekte: «TonArt – Ton-Werk» in Lausen (2012 und 2017, mit Peter Thommen), «Aussichten» bei der Sissacher Fluh (2015/16, mit Peter Thommen), «Visionen 19» auf dem Schönthaltunnel (2019/20 mit Peter Thommen). «Ohne Worte» 2021, Psychiatrie Baselland. Seit 2016 organisiert und kuratiert sie regelmässig Ausstellungen in der Psychiatrie Baselland. Dazu hat sie vier Ausstellungen im Liestaler Palazzo kuratiert.
14 kreative Köpfe
vs. Im September 1882 kam die erste Ausgabe der «Volksstimme» aus der Druckpresse. Zum 140. Geburtstag unserer Zeitung haben wir 14 Künstlerinnen und Künstler aus unserer Region eingeladen, den Zeitungskopf jeweils einer unserer September-Ausgaben zu gestalten. Alle bisher erschienenen Kunstwerke finden Sie unter www.volksstimme.ch.
GALERIE
Der Wandel zur Kuratorin und Veranstalterin
Für eigene grosse Kunstprojekte wie das Knochenkleid von 2013, die skulpturale Installation auf dem Heinke Torpus zeichnet gerne mit Bleistift und auf Papier. Mit Sissacher Friedhof von 2010, oder die «ZeitZeugen» von 2012 findet Kitty Schaertlin als unermüdliche diesen einfachen Medien lächelt uns bald auf einem Kunstveranstalterin kaum noch Zeit. Sie lässt sich aber gerne zu «Kleinerem», wie zum «dreckigen einfachen Blatt Papier ein bekanntes Gesicht entgegen. Auch auf dem Computer tobt sich die Sissacherin gerne kreativ aus. Dutzend» oder den Gipsschuh namens «Lady Gaga», inspirieren.