140 Jahre «Volksstimme» - Bunt bis zur Unkenntlichkeit
09.09.2022 BaselbietRaja Breig
Er begeistert sich für Musik, die Vogelwelt und Astronomie, eine weitere Leidenschaft ist die Kunst: Schon als Kind hat Walter «Gusy» Brugger aus Gelterkinden gerne und viel gezeichnet. Heute widmet sich der 76-Jährige punkto Kunst hauptsächlich der ...
Raja Breig
Er begeistert sich für Musik, die Vogelwelt und Astronomie, eine weitere Leidenschaft ist die Kunst: Schon als Kind hat Walter «Gusy» Brugger aus Gelterkinden gerne und viel gezeichnet. Heute widmet sich der 76-Jährige punkto Kunst hauptsächlich der Fotografie. Seine Aufnahmen – oftmals Landschaftsbilder – überarbeitet er anschliessend mit allen möglichen Techniken zu gemäldeähnlichen Bildern, nicht selten auf dem Smartphone. «Häufig werden die Bilder so farbig, dass die Fotos im Hintergrund kaum mehr erkennbar sind», sagt der Gelterkinder, der während 20 Jahren in Oltingen gelebt hat und zu dieser Zeit viel mit dem Bus unterwegs war. «Die Zeichnungen, die auf den Fahrten entstanden sind, nenne ich ‹Bus Art›», sagt er. Das Motto «Je farbiger, desto besser» hat er auch beim Gestalten seines «Volksstimme»-Zeitungskopfs aufgegriffen.
In der Kunst sind Brugger keine Grenzen gesetzt – hin und wieder zeichnet er etwa mit Glasreiniger Figuren auf den schmutzigen Kochherd oder baut Futterstationen für Vögel. «Ich freue mich, wenn meine Kunst eine kleine Verwunderung auslöst», sagt Brugger.
Der Ursprung für sein Hobby liege in der Freude an der Schönheit der Natur: «Die Vogelwelt erfüllt mein Herz.» Bruggers Wohnzimmer ist gestossen voll mit Büchern über Vögel. An der Wand hängt ein Bild eines Eisvogels, das er als Sechstklässler gezeichnet hatte. Als Schulbub habe er aufgrund seines Asthmaleidens nie auf Schulreisen mitgehen dürfen, erzählt er. «Ich hatte dann jeweils tagelang Zeit für meine Zeichnungen.» Sein Lehrer habe ihm anschliessend nie geglaubt, dass die Bilder tatsächlich von ihm stammten.
Ellbögeln als Normalität
Brugger ist in Frenkendorf aufgewachsen, wo es in den Fünfzigerjahren eine grosse Plakatwand gab. Wenn ein neues Werbeplakat aufgehängt wurde, war er stets vor Ort. «Ich war damals immer unheimlich gespannt, was für ein Bild als Nächstes kommen würde», so der frischgebackene Urgrossvater. Brugger erinnert sich an die «Pepita»-Werbung mit dem riesigen Papagei auf dem Plakat (von Grafiker Herbert Leupin). Von da an hatte sich der Traum von einer Ausbildung als Werbegrafiker fest in ihm verankert. Dieser würde sich allerdings erst zu einem viel späteren Zeitpunkt in seinem Leben erfüllen.
«Als Jugendlicher redeten mir meine Eltern den Beruf des Werbegrafikers wieder aus», erzählt Brugger. Nach der Sekundarschule absolvierte er eine Lehre zum Stahlbaukonstrukteur. Später arbeitete er als Bauführer im Hoch- und Tiefbau, führte ein Zeichnungsbüro für geologische Karten und Pläne, leitete Elternzirkel für Erziehungsfragen oder einen Robinson-Spielplatz in Reinach. Ausserdem verbrachte er viel Zeit mit Musizieren und suchte sich immer erst dann wieder Arbeit, wenn das Geld knapp wurde.
«Den Drang, Geld zu horten, verspürte ich noch nie», sagt Brugger. Volle Befriedigung habe ihm die Arbeit nie gegeben – die Geschäftswelt verändere sich in eine Richtung, in der Stress, Druck und fortwährendes Ellbögeln Normalität seien. «Es ist ein Armutszeugnis für die Menschen, dass wir für Essen und ein Dach über dem Kopf so viel hergeben und täglich von morgens bis abends bis zum Anschlag arbeiten müssen», so Brugger.
Ein trauriges Hobby
1977 zog ihn die Suche nach Jazz- und Funk-Bands in die weite Welt hinaus. In Paris blieb Saxofonist Brugger erfolglos, weshalb er nach Amerika weiterzog. Ein paar Jahre zuvor hatte er in der Schweiz eine indigene Band aus Arizona kennengelernt und versprochen, sich ihr eines Tages anzuschliessen. In der Zeit jenes Kennenlernens bis zu Bruggers Ankunft im Indianerreservat hatte sich jedoch vieles verändert – die Band hatte sich längst aufgelöst, die Musiker waren untröstlich. So zog es Brugger in den Westen, wo er solo auftrat. In New York landete er schliesslich in einer «Experimental New Wave»-Frauenband, die relativ bekannt wurde. «Auf den Brettern der Grossstadt kam mir nach einiger Zeit allerdings die Erkenntnis, dass nur Musik doch nicht so mein Ding war», so Brugger. Daraufhin kehrte er nach Basel zurück.
Seinen Kindheitstraum vom Grafiker erfüllte er sich mit Mitte 30 und gründete wenig später eine eigene Werbeagentur. In der Grafikbranche hat sich seither viel verändert – damals arbeitete er noch mit Scheren, Leim und Spraydosen. «Heute ist alles computerisiert», sagt Brugger. Fortschrittliches empfindet er zwar nicht zwingend als schlecht, dennoch ist er häufig von «Solastalgie» – dem Gefühl des Verlustes, das entsteht, wenn man die Veränderung des eigenen Lebensraums miterlebt – geplagt. Es stimme ihn nachdenklich, wie viele Vogelarten bereits aus unseren Breitengraden verschwunden sind. «Der Landschaftsmaler hat ein trauriges Hobby», sagt Brugger. «Er muss mitansehen, wie wir unsere Umwelt zubauen und zerstören.»
Ab 1995 verbrachte der Gelterkinder weitere fünf Jahre in Amerika. Zurück in der Schweiz, arbeitete er bis zu seiner Pensionierung als Kleinunternehmer mit diversen Arbeiten. Seither wandert Brugger viel und verbringt Zeit in der Natur, wo er sich seine Inspiration herholt. Ausgestellt hat er seine Kunst bis anhin noch nie. «Es bleibt so viel Schönes ungesehen», sagt er.
Zur Person
Walter «Gusy» Brugger, Künstler
Biografisches: Walter Brugger (76) wuchs in Frenkendorf auf. Bereits als Kind zeichnete er gerne und verfolgte den Berufswunsch des Werbegrafikers seit seiner Jugend. Neben der Kunst ist er leidenschaftlicher Musiker und «Vogel-Fanatiker». Brugger hat eine Tochter, zwei Enkel und eine Urenkelin. Er lebt in Gelterkinden.
Ursprüngliche Ausbildung: Nach der obligatorischen Schulzeit absolvierte Brugger eine Lehre zum Stahlbaukonstrukteur und war im Verlauf seines Berufslebens unter anderem als Bauführer, Zeichner, Saxofonist, Kleinunternehmer, Werbegrafiker sowie als Leiter eines Elternzirkels für Erziehungsfragen und eines Robinson-Spielplatzes tätig. Eine Kunstgewerbeschule oder Ähnliches hat er nie besucht.
14 kreative Köpfe
vs. Im September 1882 kam die erste Ausgabe der «Volksstimme» aus der Druckpresse. Zum 140. Geburtstag unserer Zeitung haben wir 14 Künstlerinnen und Künstler aus unserer Region eingeladen, den Zeitungskopf jeweils einer unserer September-Ausgaben zu gestalten. Alle bisher erschienenen Kunstwerke finden Sie unter www.volksstimme.ch.
GALERIE
Die Graffitiwand im Schnellzug
Walter Brugger setzt sich mit der Kunst sehr vielfältig auseinander. Meist fotografiert er Motive aus der Natur und bearbeitet diese anschliessend mit allen möglichen Techniken. Seltener widmet er sich auch der Malerei und stellt etwa Afrotanz bildlich dar. Laut Brugger sieht das Gemälde aus, als würde man im Schnellzug an einer Graffitiwand vorbeirasen.