Schuhmacher in dritter Generation
03.08.2022 Bezirk LiestalBrigitte Keller
Betritt man das Geschäft in Liestal am Fischmarkt, dann ertönt sofort ein «Ich bin gleich bei Ihnen» vom Nebenraum, in dem sich eine kleine Werkstatt befindet. Falls man sich hinsetzen möchte, steht eine einladende Sitzgelegenheit bereit. Oder man ...
Brigitte Keller
Betritt man das Geschäft in Liestal am Fischmarkt, dann ertönt sofort ein «Ich bin gleich bei Ihnen» vom Nebenraum, in dem sich eine kleine Werkstatt befindet. Falls man sich hinsetzen möchte, steht eine einladende Sitzgelegenheit bereit. Oder man schaut sich die Hunderten von Zubehörartikeln an, die vom Boden bis zur Decke reichen: zum Beispiel das Regal voller Schuhbändel in allen erdenklichen Farben. Doch dazu kommt es nicht, da der Mann zu der Stimme, Schuhmacher Gabriele Borgese, schon um die Ecke geflitzt kommt und fragt, wie er behilflich sein könne.
Bereits seit 30 Jahren gibt es den kleinen, zentral gelegenen Laden in Liestal. Damals, als Borgese gerade seine Lehre abgeschlossen hatte, bot sich ihm die Möglichkeit, diese Lokalität zu mieten. Der Zeitpunkt kam etwas früh, da der junge Schuhmacher gerne noch die Zusatzausbildung zum Orthopädieschuhmacher gemacht hätte. Doch die Gelegenheit wollte er sich nicht entgehen lassen und entschied sich bereits in jungen Jahren, mit dem eigenen Geschäft in die Selbstständigkeit zu starten.
Die Schuhmacherlehre hat Borgese zuvor bei seinem Vater in Basel absolviert, wo er auch aufgewachsen ist. «Ich bin in dritter Generation Schuhmacher. Mein Grossvater, mein Vater und ich sind alle Schuhmacher», beginnt Borgese zu erzählen. Sein Vater hatte seinerzeit ein Geschäft in Basel übernommen und weitergeführt. «Mein Vater liess mich frei entscheiden, ob ich Schuhmacher werden will.» Aber seine klare Bedingung sei gewesen: «Wenn du die Lehre anfängst, dann musst du sie fertig machen.»
Reparieren statt wegwerfen
In den drei Jahrzehnten, die Borgese nun im Geschäft in Liestal tätig ist, lernte er alle Seiten des Schuhmacherhandwerks kennen. Früher waren gelernte Schuhmacher gesucht und es gab genug Arbeit für alle, sei es für kleine Einzelunternehmer oder für die vermehrt aufkommenden Filialen einer Kette. «Damals», so Borgese, «sah man denselben Schuh sicher fünf bis sieben Mal.» Er sei zum Schuhmacher gebracht worden, wenn ein Absatz oder gar eine ganze Sohle ersetzt werden musste. Mittlerweile werde ein Schuh vielleicht noch einmal, allerhöchstens ein zweites Mal zur Reparatur gebracht. Der überwiegende Teil der kaputten Schuhe werde heutzutage leider nicht mehr repariert, sondern weggeworfen und durch neue ersetzt.
Diese Entwicklung hat gravierende Auswirkungen auf den Berufszweig. Borgese schätzt, dass rund 90 Prozent der noch tätigen Schuhmacher 60-jährig oder älter sind. Einer von ihnen, sein Vater Francesco Borgese, ist mit 80 Jahren noch immer aktiv in seinem Geschäft in-Basel. Wenn sich nicht bald etwas ändert an der «Wegwerfgesellschaft», dann sterbe das Handwerk aus, meint Borgese junior.
Qualität als oberstes Gebot
Von seinem Vater hat er gelernt, Schuhe nach Mass anzufertigen. Dies als Geschäftszweig anzubieten, sei für ihn aber nie ernsthaft zur Wahl gestanden. «Dafür müsste man zu zweit sein. Es gibt Arbeiten, die man nicht unterbrechen und nicht erledigen kann, wenn gleichzeitig Kunden zu bedienen sind.» Zudem wäre es sehr anspruchsvoll, genügend zahlungskräftige Kundinnen und Kunden zu finden.
Borgese wollte und musste sich stets etwas einfallen lassen, um genügend Arbeit und Einkommen zu haben. Neben der Spezialisierung auf Reparaturen ist er auch ein Fachmann für Einlagen geworden und hat sich in jüngster Zeit einen Namen gemacht für farbige Sohlen. Diese biete er an, wenn jemand einen Trekking- oder Laufschuh zur Reparatur bringt. Der Besitzer erhält die Gelegenheit, seine Schuhe mit einer individuellen Note und in sehr guter Qualität zu erneuern.
Es sei ein ständiges Abwägen, was man anbieten kann und will. So erwarten heutzutage viele, dass alles jederzeit und sofort zur Verfügung steht. Das würde für den Schuhmacher bedingen, ein grosses und damit auch sehr teures Lager anzulegen. Für ein kleines Geschäft ist das nicht möglich. Borgese muss häufig entscheiden, ob er etwas an Lager nimmt oder ob er der Kundschaft Geduld beim Besorgen des Produkts zumuten kann. Bei den Schuhbändeln hat er sich für eine grosse Auswahl entschieden, «die ich wohl nicht mal bis zur Pensionierung alle verkaufen kann», wie er mit einem Lachen anmerkt.
Kompromisse eingehen muss der Schuhmacher teils auch beim Lohn. Verlange er den marktüblichen Preis, würden gewisse Kundinnen und Kunden die Reparatur nicht ausführen lassen. Unter keinen Umständen macht Borgese aber Kompromisse bei der Qualität. Wenn er einen Auftrag annimmt, dann weiss die Kundin oder der Kunde, dass die Arbeit einwandfrei erledigt wird. Wenn der Fachmann sieht, dass etwas nicht machbar ist, was selten vorkommt, dann teilt er es im Vorhinein mit. Für diese Philosophie und die Offenheit schätzen ihn seine Stammkundinnen und -kunden.
Auf 600 Grad erhitzen
Bringt ein Kunde etwa seine Wanderschuhe vorbei, bei denen sich die Sohle löst, wird zuerst geschaut, ob eine Reparatur möglich ist. Früher waren Wander- oder auch Militärschuhe alle aus Leder und rahmengenäht. So konnte alles repariert werden. Ist heute eine Reparatur möglich, wird die defekte Sohle entfernt und abgeschliffen. Ist noch viel Material, sprich eine dicke Sohle, vorhanden, greift Borgese zu einem elektrischen Schneidegerät, mit dem er den grössten Teil abschneidet. Beim anschliessenden Abschleifen zeigt sich, welche Materialien verwendet wurden. Häufig sei die Zwischenbasis bereits «brösmelig», weil der Weichmacher nicht mehr gut ist. Dadurch erschwere sich die Arbeit.
Sobald alles defekte Material entfernt ist, wird das passende Paar Sohlen ausgesucht und angezeichnet, was davon noch entfernt werden muss. Die nächsten Schritte lauten: Aufrauen der zu klebenden Fläche, diese mit dem synthetischen Kleber bestreichen, mit einem speziellen Föhn auf 600 Grad erhitzen und sofort zusammenpressen. Damit auch jedes noch so kleine Risschen verschlossen wird, trägt Borgese als besonderen Service seitlich Sekundenkleber und pulverisierten Gummi auf.
Wieder wie neu
Bei neuen Absätzen an Damenschuhen folgt nach der Reparatur noch das Schleifen des Absatzes, das Einfärben und abschliessend das Polieren. Borgese kann auch schwarze, braune oder eine neutrale Farbe auf zerkratzte Schuhe auftragen und mit Wachs aufpolieren. Gewisse Arbeiten erledigt der Handwerker nach Ladenschluss, damit er nicht unterbrochen wird.
In einer Ecke der nicht sehr grossen Werkstatt steht eine alte, aber sehr robuste, von Hand und Fuss angetriebene Nähmaschine. Dort flickt Borgese neben Schuhen etwa auch Handtaschen, Gürtel, Koffer, Zaumzeug oder Sättel für Pferde.
Dass er keinen Abschluss als Orthopädieschuhmacher gemacht hat, hat Borgese in den vergangenen Jahren ein paar Mal bedauert. Als Orthopädieschuhmacher könnte er auch vom wachsenden Markt der Sonderanfertigungen profitieren. Doch jammern ist nicht das Seine. Lieber hält er Ausschau nach neuen Trends. Und er hat dabei stets die beste Qualität und die Zufriedenheit der Kundschaft als oberstes Gebot im Auge.
In loser Folge stellen wir Personen oder Betriebe vor, die heute noch ein Jahrtausende altes Handwerk praktizieren. Bereits erschienen: «Die Schmiede-Dynastie im Oberdorf» (19. Juli), «Das Wetter ist des Müllers Lust» (26. Juli).
Das Leder als Ursprung
bk. Leder wurde bereits in der frühesten Menschheitsgeschichte zur Herstellung von Schuhen, Kleidung, Beuteln und anderen Gebrauchsgegenständen verwendet. Im Lauf der Zeit bildeten sich zahlreiche, auf einen Teilbereich spezialisierte lederverarbeitende Berufe. Nach der Trennung von Gerbern und Schuhmachern in eigene Zünfte begannen sich in grösseren Städten auch die Schuhmacher zu spezialisieren: Schuhflicker, Holzschuhmacher und Pantoffelmacher lösten sich von den Schuhmachern ab und bildeten eigene Zünfte. Der Arbeitsprozess der Schuhherstellung änderte sich Jahrhunderte lang kaum. Erst im 19. Jahrhundert kam es durch die Entwicklung von neuen Techniken und durch die Erfindung von Maschinen zu einschneidenden Veränderungen. Vor der Industrialisierung stellte das Schuhmachergewerbe das zahlenmässig stärkste und verteilungsmässig dichteste Gewerbe dar. In jedem Ort bot ein Schuhmacher seine Dienste an. Vollends revolutioniert wurde das Handwerk schliesslich durch die Einführung von Nähmaschinen. Diese ermöglichen die industrielle Massenanfertigung in Fabriken. Das Handwerk geriet zunehmend in Bedrängnis. Die handwerkliche Herstellung von Schuhen nahm und nimmt rasant ab. Die Zukunftsaussichten für die traditionellen Schuhmacher sind nicht vielsprechend. Der Beruf des Schuhmachers wird sich deshalb wohl je länger je mehr auf die Orthopädie ausrichten. Mit Beginn des letztjährigen Schuljahres befanden sich insgesamt 50 «Orthopädieschuhmacher/-innen EFZ» und 4 «Schuhmacher/-innen EFZ» in der Ausbildung. Gemäss Angabe des Verbandes «Fuss&Schuh» sind schweizweit rund 500 Beschäftigte in der Branche tätig.