Brigitte Keller

Alles ist aufgeräumt, die Werkzeuge sind schön ordentlich an ihrem Platz aufgehängt und auf dem Arbeitstisch die Teile vorbereitet, die es als nächstes zu bearbeiten gilt. Sattlerin Anna Miest liebt es ordentlich. Das hat vielleicht auch mit ihrem Werdegang zu tun. Am Anfang stand eine Ausbildung zur Grafikerin. Danach folgte ein Jahr Grundstudium in Kunstgeschichte, wobei sie insbesondere alles rund ums Restaurieren interessierte. Über einige Umwege gelangte sie in die Werkstatt von Beat Niederberger in Gossau, eine Sattlerei, wo Pferdegeschirr, Sättel und ganze Kutschen restauriert wurden. Dort fand sie zu ihrer Bestimmung. Nach ein paar Schnuppertagen unterschrieb sie einen Lehrvertrag und liess sich zur Sattlerin ausbilden.

Ihre Faszination für den gewählten Beruf begleitet sie seither. «Es ist ein Handwerk, das sich zwar sehr verändert hat, aber trotzdem noch Arbeitsschritte, Techniken und Materialien hat, die sehr alt sind.» Diese Mischung aus technologisch sehr Fortschrittlichem, wie beispielsweise Klebstoffen und Schweissverfahren, und andererseits dem Gebrauch von Werkzeugen, deren Handhabung seit 100 Jahren gleich ist, gefällt Miest.

«Das andere, was ich spannend finde, ist die Abwechslung zwischen ganz Grobem bis zu ganz Feinem.» Die Arbeit an einem Sattel beinhaltet grobe Arbeitsgänge, wie das Bearbeiten von Holz und Metall mit Amboss, Hammer und Zange. Und dann gilt es wieder, feinste Nähte an dünnem Leder anzubringen.

Zwischen Tier und Mensch
Und natürlich liegt Miest die Arbeit mit Ross und Reiter am Herzen. Denn sie sehe, dass sie mit ihrer Arbeit dem Pferd und dem Reiter respektive der Reiterin das Leben erleichtern kann, indem sie ein optimales Passstück zwischen Tier und Mensch baut. «Viele Kunden haben eine Odyssee hinter sich mit vielen Fehlversuchen, Frustrationen oder Reitlehrerwechseln. Es ist dann ganz toll, wenn man ihnen sagen kann, woran es liegt und dass ich ihnen helfen kann.»

Die knapp 40-Jährige bekommt viel Lob für ihre Arbeit. Sie weiss aber auch, wo ihre Kompetenzen enden und andere Fachleute beigezogen werden sollten. Ausgeschlossen respektive abgeklärt werden müssten alle medizinischen Aspekte, also ob das Pferd beispielsweise Verletzungen oder andere anatomische Einschränkungen hat. «Diese Dinge kann ich nicht beeinflussen, ich kann aber für eine entspannte, angenehme Position von Sattel und Reiter sorgen.» Dann habe das Pferd plötzlich Lust, sich in den Sattel hinein zu wölben und reagiere nicht mehr mit Schmerzvermeidungsverhalten.

Nach ihrer Ausbildung kam Miest in Kontakt mit dem in Reiterkreisen bekannten Sattler Ruedi Maurer aus Unterkulm. Der vor drei Jahren verstorbene Fachmann wurde damals zu ihrem Mentor. Bei ihm bildete sie sich weiter und lernte beinahe in Vergessenheit geratene Techniken. Er vertraute ihr schon früh kleinere Kundenaufträge an, und so stand für Miest bald fest, dass sie sich ebenfalls selbstständig machen wollte. Heute ist sie selbst eine gefragte Adresse bei der Herstellung von Sätteln, und ihr Können hat sich herumgesprochen. Wer sie beauftragen will, braucht Geduld. Ihre Auftragsbücher beinhalten Arbeit für mindestens anderthalb Jahre. Sie kann sich ihre Aufträge aussuchen.

Zuhören, anschauen, ausmessen
Am Anfang steht meist ein längeres Gespräch mit der interessierten Person. Danach stehen der Besuch im Stall und die Begutachtung des Pferdes auf dem Programm. Sie klärt ab, welches Können und welche Ansprüche der Reiter hat, welche Disziplinen in welcher Umgebung geritten werden wollen und warum es bisher nicht funktioniert hat. Wenn Miest das Gefühl hat, dass sie das Problem nicht lösen kann, sagt sie dies spätestens an diesem Punkt.

Nimmt sie den Auftrag an, so misst sie die Kurven am Pferderücken aus. Dies geschieht mit einem sogenannten Kurvenlineal. Damit formt sie die relevanten Stellen ab – also Schulter, Mitte der Sattellage und Lende – und überträgt sie auf Papier. Miest zeigt der Reiterin oder dem Reiter, welche Stellen bisher für Probleme gesorgt haben dürften und wie diese mit einem massgefertigten Sattel behoben werden können.

Dabei entscheidend ist der Sattelbaum, also der Unterbau respektive das Herzstück des Sattels. Zur Veranschaulichung demonstriert sie mit mitgebrachten Sattelbäumen am Pferderücken, welchen Einfluss Länge und Breite, Form, Winkel und Torsion haben. Miest hat sich spezialisiert auf sogenannte Lederbäume, die sie aus Holz, Stahl und Leder in Handarbeit einzeln herstellt. Solcherlei zusammengesetzte Lederbäume sind sehr flexibel und reagieren auf jede noch so kleine Bewegung des Reiters respektive der Reiterin. Was ein grosser Vorteil ist, könnte sich bei einem ungeübten Reiter oder einem noch jungen Pferd auch nachteilig auswirken. Deshalb passt die Sattelmacherin die Flexibilität bei Leder- und Holz-Sattelbäumen immer den individuellen Bedürfnissen an.

In der Werkstatt wird der Sattelbaum «zu Faden geschlagen». Zur Herstellung des passenden Kopfeisens und der seitlichen Metallschienen stellt sich die Sattlerin zwischendurch auch an den Amboss. Ist das Provisorium soweit, besucht sie ein zweites Mal das Pferd und schaut genau, welche Anpassungen es noch braucht. Mit Fotos und Notizen geht es zurück in die Werkstatt.

Reiter kommen zum Probesitzen
Ist der Sattelbaum fertiggestellt, folgt die Sitzpolsterung des Sattels. Dazu kommt nun der Reiter respektive die Reiterin in die Werkstatt nach Oltingen. Dort steht ein Holzbock, liebevoll «Rossböckli» genannt. Es geht nun daran, die Passform der oberen Seite des Sattels zu finden. Der Sattel wird auf den Holzbock gelegt und der Reiter respektive die Reiterin setzt sich drauf, um die optimale Sitzform herauszuarbeiten. Als Grundmaterial für die Polsterung arbeitet Miest mit einem Latexschaumgummi, der eine angenehme Festigkeit hat und sich sehr gut von Hand in die gewünschte Form bringen lässt.

Nach der Sitzprobe geht es an die Auswahl der Sattelblattform und des Leders für den Bezug. Die Form entsteht einerseits aus der Grösse der Person und deren Vorstellungen, wobei manchmal auch Bilder mitgebracht werden. Andererseits legt die Sattlerin Wert auf das Gesamtbild, die Formensprache und die Ästhetik. «Es muss ein stimmiges, schönes Objekt werden.»

Beim Sattelbau kommen verschieden starke und verschieden bearbeitete Leder zum Einsatz. Für die Sitzfläche werden dünnere Leder gewählt. Früher war dies fast ausschliesslich Schweinsleder. Die Perforationen, verursacht durch die ursprünglichen Borsten, sorgen für eine natürliche Atmungsaktivität. Bei der Variante mit Schweinsleder wird dieses aus Gründen der Optik oft mit geprägtem Rindsleder kombiniert. Das ist nur eine der vielen Möglichkeiten, die ein massgefertigter Sattel bietet. Wo nötig, werden feinere Lederteile mit einem zweiten Leder verleimt, um die gewünschte Festigkeit zu erlangen.

Symbol der Sattler
Die Leder sind pflanzlich- oder fettgegerbt und stammen ausschliesslich aus Nord- und Westeuropa. Beim Leder für die Sattelbäume, wie es auch für Schuhsohlen verwendet wird, handelt es sich um Rindsleder, das nach dem Gerben gewalzt, gehämmert und auf diese Weise stark verdichtet wird. Bei sogenannten Schulsätteln, wie sie in der Klassischen Reitkunst zur Anwendung kommen, wird sämisch gegerbtes Hirschleder aus dem Schwarzwald verwendet.

Zum Schneiden des Leders greift Miest zum Halbmond, dem Symbol der Sattler, wie Miest sagt. Dieses Werkzeug habe sich in den vergangnenen 100 Jahren nicht verändert. Mit ihm lassen sich gerade, aber auch runde Schnitte ausführen und Leder gar dünner schneiden. Fürs Zuschneiden der Riemen setzt Miest ebenfalls auf Tradition: Die alte Riemenschneidemaschine funktioniert alleine mit Muskelkraft: Breite des Riemens einstellen, Leder «einfädeln» und mit sicherer Hand durchschieben.

Ist der Sattel inklusive aller Riemen und Strippen und darunter liegendem Flanellkissen fertig, folgt der Höhepunkt: die Auslieferung. Nochmals wird ganz genau geschaut, ob alles perfekt passt oder ob es noch kleine Anpassungen braucht. So verfügt das Kissen über Schlitze, wo bei Bedarf Schurwolle nachgefüllt wird. Diese Schurwolle setzt sich beim Einreiten, und nach rund fünfzig Stunden im Einsatz folgt nochmals eine Aufpolsterung.

Wer bei Miest einen von A bis Z massgefertigten Sattel in Auftrag gibt, ist bereit, rund 7000 Franken zu investieren, inklusive aller Anpassungsarbeiten, «bis das Konstrukt funktioniert, das ist der Deal».

Drei Jahre Lehrzeit, drei Fachrichtungen

bke. Die Geschichte des Sattels geht wohl zurück bis in die Antike. Der Sattel wurde wahrscheinlich von Reiterstämmen aus dem Osten entwickelt. Im 14. Jahrhundert entwickelte sich neben dem Sattlerhandwerk das eigenständige Gewerbe der Riemer. Ihr Arbeitsgebiet waren Zaumzeug, Riemen und Gurte. Die Lieferanten der Rohmaterialien waren dabei meist die Metzger. Mancherorts wurden die beiden Berufsgruppen verpflichtet, das Leder von einem Ledergerber zu beziehen.
Heute gibt es die drei Fachrichtungen Pferdesport, Fahrzeug + Technik und Feinlederwaren. Sie alle machen die dreijährige Ausbildung zum Fachmann/zur Fachfrau Leder und Textil. Über alle 3 Lehrjahre, in allen 3 Fachrichtungen und Landesteilen gibt es aktuell 50 Lernende.
Der Verband Leder Textil Schweiz VLTS ist 2015 aus den drei Fachverbänden Verband Schweizerischer Carrosseriesattler (Fahrzeug + Technik), Sattler-Schweiz.ch (Pferdesport) und Verband Schweizerischer Reiseartikel- und Lederwaren-Fabrikanten (Feinlederwaren) entstanden. Die Branche teilt sich in 300 Fachbetriebe mit 900 Beschäftigten auf.

Mit Amboss, Sattelbaum und Halbmond

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