Bauen ohne Mörtel und Zement
26.08.2022 Bezirk Sissach, OrmalingenChristian Horisberger
Ausgangs Ormalingen in Richtung Rothenfluh ist im Grün einer Wiese jenseits der Ergolz ein schmales, helles Band zu erkennen: eine Kalksteinmauer. Einige Dutzend Meter weiter westlich, umgeben von Bäumen und Büschen, wächst eine weitere solche ...
Christian Horisberger
Ausgangs Ormalingen in Richtung Rothenfluh ist im Grün einer Wiese jenseits der Ergolz ein schmales, helles Band zu erkennen: eine Kalksteinmauer. Einige Dutzend Meter weiter westlich, umgeben von Bäumen und Büschen, wächst eine weitere solche Mauer in die Höhe und in die Breite. Dem Mann, der dort an der Arbeit ist, wollen wir einen Besuch abstatten. Der Weg zu ihm führt über eine steile Treppe. Auf einem «Bödeli» befindet sich eine karge Hütte, daneben lagern tonnenweise Jurakalk-Steinquader.
Vor einigen Wochen war der Berg aus Steinen noch mehr als doppelt so hoch. Etwas oberhalb der Hütte ist zu sehen, was daraus geworden ist: eine etwas mehr als zwei Meter hohe und rund zehn Meter breite Stützmauer. Auf einem Podest davor geht der Erbauer seiner Arbeit nach: Dieter Schneider. Mit Fäustel und Zahneisen, Spitzeisen und Setzer behaut er einen Brocken in der ungefähren Grösse und Form einer 6er-Weinkiste. Ein Buckel an der Unterseite des Steins müsse weg, damit er sich in die Mauer einfügen lässt ohne zu wackeln, kommentiert der 64-Jährige den Vorgang. Denn die Mauer muss Wind, Wetter und Erosion jahrzehntelang trotzenm – und das ohne Mörtel und Zement.
«Was die Steine zusammenhält, sind die Reibung und die Erdanziehungskraft», sagt Schneider. Freilich ist das stark vereinfacht. Selbstverständlich braucht es mehr als das: einen Aushub von mindestens 15 Zentimetern vom gewachsenen Terrain, in den das Fundament für die Mauer gelegt wird, viererlei Steine für Front, Hinterbau, Stabilisierung und Abschluss, 15 Prozent Neigung gegen den Hang, Werkzeug mit gehärteten Spitzen, Maurerschnur. Und eine grosse Flasche Apfelmost: Diese Arbeit bringt einen ganz schön ins Schwitzen. Jeden Stein nimmt der Trockenmaurer mehrmals in die Hände, dreht und wendet ihn beim ersten groben Behauen am Fuss der Mauer und dann nochmals bei der Nachbearbeitung obendrauf.
Ein geübter Trockenmaurer schafft an einem Tag einen Quadratmeter und verarbeitet dafür rund 1 Tonne Steine. «Es ist Knochenarbeit», sagt Schneider nüchtern. «Aber wenn man an einem friedlichen und schönen Ort arbeitet wie hier, dann hat die Arbeit manchmal auch einen meditativen Charakter.» Hier in Ormalingen ist so ein Ort. Vom Podest hat man eine wunderschöne Aussicht aufs grünende und blühende Ergolztal.
Viel Zeit zum Grübeln
An diesem Hang ist Schneider nicht zum ersten Mal tätig. Vor zwei Jahren hat er, einen Steinwurf von der aktuellen Baustelle entfernt, zusammen mit dem örtlichen Naturschutzverein bereits eine Trockenmauer errichtet. Einer der Helfer von damals hat ihn nun auf einem Privatgrundstück für den Ersatz einer bestehenden Stützmauer und den Bau einer zweiten verpflichtet.
Wozu die ursprüngliche Mauer seinerzeit gedient haben soll, kann Schneider nicht mit Bestimmtheit sagen. Eine Rebmauer? Eine Entsorgungsstelle für Ackersteine oder Steinbruch-Abfall? Für die zweite Option spricht die extrem tiefe Hintermauerung und ein Weg, der einige Meter oberhalb durch den lichten Wald führt. «Das sind aber nur Theorien», sagt Schneider. «Wenn man alleine arbeitet, hat man viel Zeit zum Grübeln.»
Die alte Mauer war nicht mehr zu retten. Zum Teil hatte sie sich der Wald geholt und überwuchert, zum Teil war sie zerfallen. Als wir Schneider auf der Baustelle treffen, ist der Neuaufbau einer ersten Trockenmauer nahezu vollendet. Noch etwa zehn Decksteine fehlen, dann ist die letzte Reihe komplett und die gelbe Richtschnur auf 2,20 Metern Höhe auf der ganzen Breite erreicht. Anfang Juni hatte der Buckter sein Werkzeug nach Ormalingen geschafft. Wenn Ende kommender Woche auch die zweite Mauer vollendet ist, wird er weiterziehen.
Aufträge wie dieser sind für Schneider eher selten. Wenn Private bereit sind, für eine arbeitsintensive Trockenmauer tief in die Tasche zu greifen, dann in der Regel, um den eigenen Garten zu schmücken und aufzuwerten. Und Mauern in der Landschaft würden mehrheitlich von Naturschutzorganisationen in Auftrag gegeben. Denn neben ihrer Stützfunktion haben sie auch einen hohen ökologischen Stellenwert. Nicht nur Eidechsen fühlen sich auf oder zwischen den aufgeheizten Steinen wohl. Die Mauerritzen sind für etliche Kleintiere Lebens- und Jagdraum: Spinnen, Schnecken, Insekten; je nach Fugenbreite auch Wiesel, Vögel oder Igel und Mäuse. Auch Pflanzen wie Moos, Flechten, Farne, Steinbrech, Hauswurz, Mauerpfeffer oder Steinnelke gedeihen an und auf den Mauern.
Wissen ist verloren gegangen
Seit etwa zwei Jahrzehnten sind Trockenmauern in der Schweiz en vogue. Es gibt genügend Aufträge für die Fachleute, es gibt einen Branchenverband und auch Fördermittel von Bund und Kantonen für die Auftraggeber. Bis hierhin war es ein steiniger Weg. Als Teilhaber eines Gartenbauunternehmens war Schneider Anfang der 1990er-Jahre erstmals mit dem Bau von Trockenmauern konfrontiert. «Wir machten etwas mit Steinen, aber es war unbefriedigend», sagt er. Niemand mehr habe gewusst, wie man solche Mauer baut: «Nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Handwerk bei uns ausgestorben.» Schneider besuchte einen Lehrgang für den Bau von Trockenmauern von Pro Natura und der Stiftung Umwelt Einsatz Schweiz (SUS) auf dem Creux du Van im Neuenburger Jura mit seiner einmaligen Naturkulisse. Da war es um ihn geschehen. Der Mauerbau ohne Mörtel wurde für ihn zur Herzensangelegenheit. Er bildete sich in Schottland weiter, wo das Handwerk stets gepflegt worden ist, besuchte an den Küsten Schottlands und Frankreichs mächtige Mauern, die Jahrtausende überdauert hatten.
Das Können hatte der Baselbieter nun erworben, doch fehlte es am Vertrauen potenzieller Auftraggeber in den Bau von Mauern ohne «Klebstoff»: «Oft war es schwieriger, die Leute von der Stabilität einer Mauer zu überzeugen, als sie zu bauen.» Die Aufträge waren rar, Schneider arbeitete im ganzen Land: Im Wallis schichtete er Gneis- und im Tessin Granitblöcke aufeinander. Zudem leitete er Kurse und Projekte mit Naturschützern, Schülern, Arbeitslosen oder Zivildienstleistenden.
Ein 1999 lanciertes und bis heute andauerndes Zivildienstprojekt der SUS habe einen Boom ausgelöst und damit das Handwerk endgültig aus dem Dornröschenschlaf erweckt, sagt der Fachmann. Gemeinden,Weinbauvereine, Naturschutzorganisationen klopften bei ihm an, um Stützmauern von ihm restaurieren und bauen zu lassen – unter anderem jene in den Rebhängen in der Aescher Klus, in Oberdorf oder in Maisprach. Endlich gab es genug Arbeit.
Branche organisiert sich
Mit der Hilfe eines Fachmanns aus Schottland hat die SUS 1996 ein erstes Schweizer Standardwerk für den Bau und die Reparatur von Trockenmauern produziert. Seit der Gründung des Schweizerischen Verbands der Trockensteinmaurer (SVTSM) im Jahr 2005 wird der Know-how-Transfer intensiviert, die Spezialisten sind besser vernetzt. Eine staatlich anerkannte Ausbildung zum Trockenmaurer gibt es zwar bis heute nicht. Doch bietet der Verband Weiterbildungsmodule an und erarbeitete Kursunterlagen. Der SVTSM, dessen Sekretariat Schneider vom Gründungsjahr bis 2019 geführt hat, zählt heute rund 80 Mitglieder – mehrheitlich Spezialisten wie Schneider sowie Gartenbauunternehmen.
In einem Jahr hat Dieter Schneider das Pensionsalter erreicht. Knochenarbeit hin oder her, aber mit 65 Jahren wird er den Fäustel nicht hinschmeissen. Sondern bei Kollegen aushelfen, die ihn brauchen können. Wie sollte er auch aufhören können? Er schafft es ja nicht einmal in seinen Ferien, die Finger von den Mauern zu lassen. Entdeckt er in seinem Ferienort eine Mauer, die eine Reparatur vertragen würde, fragt er beim Eigentümer der Baute, ob er während des Urlaubs Hand anlegen dürfe.
In loser Folge stellen wir Personen oder Betriebe vor, die heute noch ein jahrtausendealtes Handwerk praktizieren. Bereits erschienen: «Die Schmiede-Dynastie im Oberdorf» (19. Juli), «Das Wetter ist des Müllers Lust» (26. Juli), «Schuhmacher in dritter Generation» (3. August), «Mit Amboss, Sattelbaum und Halbmond» (16. August). Hiermit endet die Reihe.
Brochs, Forts, Pyramiden, Aquädukte
vs. Das Maurerhandwerk ist fast so alt wie die Menschheit selber. Denn sobald Menschen vor ihren Höhlen Steine aufeinandergeschichtet haben, um sich gegen Eindringlinge oder Wind und Wetter zu wehren, kann von Mauerbau die Rede sein. Häuser aus Lehmziegeln entstanden seit 6000 vor Christus.
Beeindruckende Bauten ohne Mörtel befinden sich etwa in Schottland. Bekannt sind die bis zu 15 Meter hohen, trockengemauerten Rundbauten (Brochs). Sie sind um 2500 Jahre alt. Noch älter sind Forts wie Dún Aonghasa auf der vorgelagerten irischen Insel Árainn. Der innere halbkreisförmige Wall wurde vor etwa 3000 Jahren errichtet. Ab 2000 vor Christus entstanden auf Sardinien Turmbauten, die als Nuraghe bekannt sind. In erster Linie der Steinmetzkunst zuzuordnen sind die ägyptischen Pyramiden, die vor 4500 Jahren entstanden. Bekannte historische Bauten, bei denen (teurer) Mörtel oder Zement verwendet wurde, sind die Chinesische Mauer oder römischen Aquädukte.
Der Trockenmauerbau wurde 2018 in die Unesco-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Diese umfasst Trockenmauerwerke unter anderem in der Schweiz.