AUSGEFRAGT | FLAVIA GROSSMANN, GESCHÄFTSLEITERIN AMIE BASEL
19.08.2022 Baselbiet, GesellschaftMelina Mundschin
Frau Grossmann, wie ist das Projekt «Amie Basel» entstanden?
Flavia Grossmann: «Amie Basel» ist seit acht Jahren ein eigenständiger Verein zur Unterstützung von armutsbetroffenen Müttern. Davor war «Amie» ein Projekt des ...
Melina Mundschin
Frau Grossmann, wie ist das Projekt «Amie Basel» entstanden?
Flavia Grossmann: «Amie Basel» ist seit acht Jahren ein eigenständiger Verein zur Unterstützung von armutsbetroffenen Müttern. Davor war «Amie» ein Projekt des Gewerbeverbands Basel-Stadt. Die Gründenden stellten damals fest, dass junge ambitionierte Sportlerinnen und Sportler dabei unterstützt werden, Berufsbildung und Sportkarriere unter einen Hut zu bringen. Sportlerinnen und Sportler sind aber nicht die einzigen, die Unterstützung benötigen. Bei jungen Müttern fehlte bisher eine ähnliche Hilfestellung, obwohl auch sie einer Mehrbelastung ausgesetzt sind. Um diese jungen Frauen auf ihrem Ausbildungsweg besser zu unterstützen, wurde «Amie Basel» gegründet. Und genau das machen wir nun schon seit 2014.
Was für Frauen wenden sich an den Verein in Basel?
Die allermeisten Frauen, die an uns gelangen, sind in irgendeiner Form von Armut betroffen. Als der Verein frisch gegründet wurde, war das Programm «Amie»-Ausbildung insbesondere für junge Mütter bis 25 Jahre ausgelegt. Wir merkten aber bald, dass diese Beschränkung zu eng ist. Denn nicht nur junge Mütter stehen teilweise vor Herausforderungen. Häufig sind es auch alleinerziehende Frauen – unabhängig von ihrem Alter – die zwei Kinder haben oder aus ihrem Heimatland geflüchtet sind. Eine klare Altersbeschränkungen gibt es also nicht mehr.
Wie werden Interessierte auf «Amie Basel» aufmerksam?
Einige kommen aktiv auf uns zu, da sie schon von uns gehört haben. Andere wiederum werden via Sozialamt an uns weitergeleitet.
Haben sich in den vergangenen Monaten auch vermehrt geflüchtete ukrainische Mütter gemeldet?
Wir haben tatsächlich erwartet, dass Ukrainerinnen bei uns anklopfen werden. Bisher haben wir aber noch keine Anmeldungen erhalten. Das liegt wohl daran, dass der Prozess des Deutschlernens aktuell bei vielen noch im Vordergrund steht. Und diese Sprachkenntnisse sind wichtig, um im Arbeitsmarkt erst Fuss fassen oder an Weiterbildungen teilnehmen zu können.
Wie unterstützen Sie diese Frauen?
Wir haben bei «Amie» zwei verschiedene Angebote, denn die Frauen befinden sich in unterschiedlichen Lebensphasen. Wir bieten einerseits mit «Amie»-Job ein Bewerbungscoaching an, bei dem die Mütter alles rund ums Bewerben lernen. Andererseits führen wir mit «Amie»- Ausbildung ein Bildungsangebot durch, das Mütter ohne Ausbildung auf den Lehrstellenantritt vorbereitet. Darunter finden sich klassische Schulfächer wie Mathematik und Deutsch, um schulische Lücken zu schliessen. Aber auch der Bereich «Mutter und Kind» gehört zum Angebot. Die Kursteilnehmerinnen kommen jeden Morgen und an zwei Nachmittagen ins Kurslokal.
Warum haben es Mütter schwer, im Berufsleben Fuss zu fassen?
Gerade für alleinerziehende Mütter ist es eine Herausforderung, alle Arbeiten rund um die Familie und einen Beruf miteinander zu vereinbaren. Aber auch mit Partner tragen oft die Frauen die Hauptlast und übernehmen zu Hause viel Arbeit. Viele alleinerziehende Mütter, die zu uns kommen, können nicht in einem Teilzeitpensum arbeiten, da sie ansonsten finanziell nicht über die Runden kommen. Und nicht zu vergessen: Junge Mütter tragen mehr Verantwortungen als Mädchen oder junge Frauen im gleichen Alter.
Wo sehen Sie Probleme in der Gesellschaft?
Junge Mütter werden auch heutzutage noch stigmatisiert. Sie erzählen uns von den Blicken und Kommentaren, die sie erhalten, weil sie schon so jung Mutter sind. Die gesellschaftliche Idealvorstellung, wie alt eine Mutter zu sein hat und wie sie für ihr Kind sorgen soll, steht sicherlich hinter dieser Reaktion. Wir möchten diese Frauen in ihrer Rolle bestärken und ihr Selbstwertgefühl kräftigen. Denn sie leisten sehr viel und dürfen stolz darauf sein.
Und in der Politik?
Hier sehe ich vor allem eine Herausforderung bei der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie. In der Schweiz sind die Arbeitszeiten im europäischen Vergleich lang. In nordischen Ländern oder in Frankreich sind die Arbeitstage kürzer. Das erlaubt den Eltern beispielsweise, ihre Kinder früher von der Kita abzuholen und mehr Zeit mit ihnen zu verbringen. In der Schweiz existiert zudem kein «Familiendepartement», das sich auf Bundesebene mit Familienfragen auseinandersetzt. Ein anderes Problem ist das niedrige Lohnsegment, in dem sich Mütter ohne Ausbildung befinden. Dies zieht einen langen Rattenschwanz mit sich. Mit wenig Lohn können grössere Rechnungen nicht bezahlt werden und allenfalls zu Schulden führen.
Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern?
Auf der Ausbildungsseite wäre es wünschenswert, wenn es mehr Möglichkeiten zu Teilzeit-Lehrstellen gäbe. Verkürzte Arbeitstage wären ein guter Schritt in die richtige Richtung. Eine gut ausgebaute Kinderbetreuung ist auch ein wichtiges Element, das zur Unterstützung von Müttern beiträgt.
Wie fühlen sich diese Mütter? Tun sie sich schwer, Unterstützung anzunehmen?
Nein, sie haben ja auch den Anspruch, alles möglichst gut zu machen, und sind sehr dankbar für jede Unterstützung. Wir bestärken diese Frauen in dem, was sie leisten. Häufig vergessen sie, was sie überhaupt alles meistern mit einem Kind.
Was raten Sie den Müttern, die sich an «Amie Basel» wenden?
Ein Patentrezept dazu gibt es nicht. Jede Frau und jede Situation ist anders. Die Voraussetzungen, Bedürfnisse und Ziele jeder Mutter werden individuell mit ihnen angeschaut. Wichtig ist auch, herauszufinden, was die Frau will und wo sie steht. Wir begleiten die Frauen und die teilweise noch jungen Mütter auf ihrem Weg, finanziell selbstständig zu werden.
Zur Person
Flavia Grossmann ist seit drei Jahren Geschäftsleiterin von «Amie Basel». Am nächsten Mittwoch hält die 39-Jährige im Rathaus in Liestal ein Referat über das Thema.