«Einsamkeit ist oft Geissel im Alter»
09.08.2022 BaselbietAndreas Bitterlin
Frau Jaeger, Herr Harr: Pro Senectute beschreibt das von ihr in verschiedenen Ortschaften betriebene «Digital Café» als einen Anlass, bei dem die Überwindung der Einsamkeit angegangen wird. Was geschieht dort?
Michael Harr: Wir ...
Andreas Bitterlin
Frau Jaeger, Herr Harr: Pro Senectute beschreibt das von ihr in verschiedenen Ortschaften betriebene «Digital Café» als einen Anlass, bei dem die Überwindung der Einsamkeit angegangen wird. Was geschieht dort?
Michael Harr: Wir bieten Menschen mit Problemen im digitalen Bereich, also mit Handys oder Computern, Unterstützung an. Sie können unangemeldet spontan in ein Café kommen, wo Studenten sie gratis beraten und Hilfe leisten. Bei dieser Gelegenheit treffen diese Personen an einem grossen Tisch andere Menschen mit ähnlichen Fragestellungen an, mit denen sie ins Gespräch kommen können.
Fruchtet Ihre Absicht, die Kommunikation untereinander zu lancieren?
Harr: Es ist ein sehr erfolgreiches Projekt. Es entstehen tatsächlich soziale Kontakte, die teils auch über das «Digital Café» hinaus anhalten.
Regula Jaeger: Der Erfolg gründet sicher auch auf dem unkomplizierten Rahmen. Die Ambiance stimmt, weil die Menschen in ein «normales» Café und nicht in ein Büro kommen, und sie sitzen alle zusammen an einem grossen Tisch mit Kaffee und Gipfeli, also nicht in einer typischen isolierten Beratungssituation. Die Anmeldung an einen Kurs entfällt, der spontan mögliche Zugang ist einladender.
Stellen Sie weitere Plattformen für Kontaktmöglichkeiten zur Verfügung?
Jaeger: Im Restaurant Stärne in Arlesheim organisieren wir seit Jahren jeweils am Montagnachmittag einen Informationstisch, der niederschwellig und ohne vorgegebenes Thema für Gespräche zur Verfügung steht. Bei Bedarf geben wir inhaltliche Inputs. Es ist eine Art Stammtisch, der sehr gut genutzt wird. Es werden Freundschaften geknüpft, die auch ausserhalb dieses Anlasses gepflegt werden. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben sich auch schon gegenseitig Wohnungen vermittelt.
Harr: Ein weiteres Angebot ist zweimal pro Woche unser offener Mittagstisch in der Alterssiedlung Rankhof in Basel, der aber nicht nur von den dort wohnenden Personen besucht werden kann.
Wie erreichen Sie Menschen, die sich einsam in ihrer Wohnung isolieren?
Jaeger: Den Stammtisch in Arlesheim nutzten zu Beginn primär Leute, die sehr offen und mobil und kommunikativ sind. In unseren Beratungen zu verschiedenen Themen konnten wir mit der Zeit aber auch andere Menschen mit weniger sozialen Kontakten animieren, diese Zusammenkünfte aufzusuchen. Es ist inzwischen spannend festzustellen, wie Leute mit sehr unterschiedlichen Charakteren sehr offen miteinander umgehen. Es wird Rücksicht genommen aufeinander. Es wird sehr deutlich gesprochen, damit auch Hörbehinderte am Gespräch teilnehmen können.
Sie bewerben in Broschüren auch Rikscha-Ausflüge.
Harr: Wir bemühen uns, beim Projekt Rikscha-Ausleihe ältere Menschen mit Jungen in Kontakt zu bringen. Wir informieren an Anlässen und in Gesprächen Junge, damit diese mit unternehmungslustigen Älteren für eine Miet-Tagespauschale von 20 Franken mit einer E-Rikscha erlebnisreiche Ausflüge unternehmen.
Woran erkennen Sie, dass jemand einsam ist?
Jaeger: Wenn uns Personen kontaktieren wegen anderer Anliegen wie etwa Finanzen oder Patientenverfügung, kann das Gespräch auch auf das Thema Alleinsein kommen. Oder Verwandte melden uns, dass Angehörige einsam sind, wenn beispielsweise die Partnerin oder der Partner verstorben ist und die allein Zurückgebliebenen ihre Wohnungen nicht mehr verlassen. Sie bitten uns abzuklären, was die Menschen gebrauchen können. Wir erkennen dann den konkreten Bedarf.
Sie sagen, dass die Einsamkeit «oft eine Geissel im Alter» ist. Wird diese Einsamkeit offen oder nur versteckt deklariert?
Jaeger: Wir stellen fest, dass die Betroffenen eher zurückhaltend und gehemmt sind, wenn die Verwandten beim Gespräch anwesend sind, weil sie diese nicht belasten möchten. Bei einem zweiten Gespräch ohne die Angehörigen erleben wir sie dann meist offener.
Stellen Sie in unserer Gesellschaft beim Thema Einsamkeit Tabuisierung und Stigmatisierung fest?
Harr: Einsamkeit wird oft mit Defiziten in Verbindung gebracht, den Betroffenen werden Kompetenzen abgesprochen, sodass sie das Gefühl haben, sie seien nicht attraktiv. Wir versuchen zu sensibilisieren und unterschiedliche Lösungsansätze aufzuzeigen. Man kann Menschen, die sich alleine fühlen, motivieren, etwas dagegen zu unternehmen, was nicht immer von Erfolg gekrönt ist. Man kann aber auch das Umfeld animieren, Kontakt aufzunehmen und bei Unterfangen gegen die Einsamkeit Hilfe anzubieten.
Wie gehen Sie auf Menschen mit Einsamkeitsgefühlen zu?
Jaeger: Wir tasten uns zum Beispiel bei Beratungsgesprächen über eine andere Thematik vorsichtig an das Thema Einsamkeit heran. Wenn die Leute langsam Vertrauen fassen, schlagen wir ihnen vor, unsere Hilfsangebote zu prüfen. Es gibt auch Menschen, die uns ohne konkrete Anliegen anrufen und wir im Gespräch merken, dass sie einfach das Bedürfnis haben, mit jemandem zu sprechen. In dieser Situation vermitteln wir ihnen die Sicherheit, dass Pro Senectute für sie da ist und sie sich ungeniert bei uns melden können.
Harr: Wir erleben viele ältere Frauen und Männer, die bei uns Freiwilligenarbeit leisten. Auch das dient der Überwindung von Einsamkeit. Einerseits hilft ihre Dienstleistung denjenigen, die von diesem Einsatz profitieren. Andererseits nützt sie auch denjenigen selbst, die sich engagieren, weil es eine sinnvolle Freizeitgestaltung ist, bei der sie andere Menschen kennenlernen und mit ihnen kommunizieren können.
Sie betreiben auch ein generationenübergreifendes Projekt in Schulen.
Harr: Wir vermitteln ältere Menschen mit bestimmten Kompetenzen an Schulen, an denen diese Fähigkeiten gefragt sind. Für die Lehrerschaft ist dies eine Entlastung, und die Schülerinnen und Schüler empfinden es als spannend, mit einer Fachperson von aussen über ein Thema zu diskutieren.
Wie finanzieren Sie Ihre Angebote?
Harr: Immer mehr durch Spenden. Wir werden auch durch Legate und Erbschaften unterstützt. Gewisse Dienstleistungen wie etwa Wohnungsreinigungen oder IT-Unterstützungen zu Hause verrechnen wir der Kundschaft.
Wie haben Sie die Coronazeit erlebt?
Harr: Wir mussten während der Pandemie sämtliche Kurse aussetzen. Einen kleinen Teil konnten wir durch Online-Angebote kompensieren. Wir haben beispielsweise Fitnessübungen online angeboten. Dazu ist zu sagen, dass das Nutzen von Internetdienstleistungen einige ältere Menschen vor technische Probleme stellt. Wir versuchen, die notwendigen Befähigungen anzubieten, während der Corona-Einschränkungen halt vor allem telefonisch.
Jaeger: Auch in anderen Themenbereichen wurden und werden unsere telefonischen Beratungen intensiv genutzt. Wir haben während der Covid-Einschränkungen auch Einkäufe für ältere Menschen getätigt und durch die geschlossenen Türen oder via Fenster einige Worte gewechselt.
Zu den Personen
abi. Regula Jaeger wurde 1973 geboren und ist in Känerkinden aufgewachsen. Sie hat 1993 in Liestal die Handelsschule abgeschlossen und von 2004 bis 2007 an der HPSABB (heutige FHNW) Sozialarbeit studiert. Danach war sie bei Overall in der Arbeitsintegration und später bei der Sozialhilfe Basel-Stadt tätig, ehe sie im November 2014 zu Pro Senectute beider Basel stiess. Sie ist verheiratet und lebt heute mit ihrem Ehemann wieder in Känerkinden. Ihre Freizeit verbringt sie gerne in der Natur, sie spielt Violine im Orchester Gelterkinden und ist aktive Fasnächtlerin.
Michael Harr, lic. rer. pol., ist Geschäftsleiter von Pro Senectute beider Basel. Der gebürtige Basler studierte an der Universität Basel Wirtschaftswissenschaften mit Spezialisierung in den Bereichen Marketing und Sozialpolitik. Er absolvierte ein Nachdiplomstudium im Non-Profit-Management am Verbandsmanagement-Institut der Universität Fribourg und eine Weiterbildung zum Mediator an der Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit. Michael Harr verfügt über langjährige Erfahrung im Management von Non-Profit-Organisationen. Seine Tätigkeitsschwerpunkte liegen im Stiftungsmanagement, Marketing und in der Entwicklung innovativer Projekte. Michael Harr ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder.