Unser freier Wille

Wohl jeder hat das Gefühl, er verfüge über einen freien Willen, denn man kann scheinbar stets bewusst zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen. Man kann beim Einkaufen zwischen Erdbeeren oder Rhabarber wählen, sich für den Beruf A oder B entscheiden oder ihn später auch wechseln. Wir glauben, dass unser Bewusstsein die Quelle für unsere Entscheidungen ist. Wenn wir handeln möchten, dann können wir es tun oder auch bleiben lassen. Stimmt das wirklich?

Jedes Ereignis wird von Vorausgegangenem beeinflusst. Dennoch denken wir, dass es klare Zusammenhänge gibt: Eine Abfolge von eintreffenden Daten bewirkt, dass unser Smartphone klingelt; wir kommen zur Welt, werden älter und sterben schliesslich; ein Blitz schlägt in ein Haus ein und es bricht ein Brand aus. Dies sind alles Zusammenhänge, die tatsächlich, logisch und funktionell zusammenhängen. Aber genau betrachtet, gibt es eine Unmenge von unbewussten Voraussetzungen, die unser Leben bestimmen.

Tatsache ist, dass wir unsere Eltern und damit auch unsere Gene nicht wählen konnten, ebenso wenig die Umgebung, in die wir hineingeboren wurden, wir konnten auch unsere Geschwister nicht aussuchen. Wir konnten unsere Lehrer nicht wählen, auch nicht unsere Schulkameraden, nicht den Zeitgeist, in den wir gerieten, nicht das Land, in das wir gesetzt wurden, nicht das politische System, das herrschte. Alle diese Voraussetzungen beeinflussen uns schliesslich mehr, als uns lieb ist. Auch die eigene Seele haben wir nicht ausgewählt!

Das ist wohl harte Kost, wenn ich dies so formuliere. Aber wie laufen die Dinge im Alltag ab? Es kann ja nicht einfach alles Zufall sein, denn dann wäre der freie Wille ganz ausgeschaltet. Ist denn alles vorbestimmt, wie in einem Uhrwerk? Auch dies lässt sich nur schwer für alle Situationen als Erklärung einsetzen. Wir stellen uns den freien Willen meist so vor, als könnten wir tun und lassen, was wir wollten. Eng verbunden mit dem freien Willen ist der psychologische Begriff des Selbst. Gemeint ist das, was wir als unsere Person empfinden, was wir von uns selbst denken, halten und nach aussen darzustellen scheinen – das Selbstgefühl.

Wie rasch und stark sich dieses Gefühl je nach Situation ändern kann, hat wohl schon jeder erlebt. Wie das Selbstgefühl einer fremden Person je nach Betrachter verschieden beurteilt wird, ist ein Hinweis darauf, dass es keine festen Kriterien gibt. Jemand kann von den einen als integre Person geschätzt werden, von anderen wird sie als Angeber empfunden. Im Selbst sind die unbewussten Anteile ebenfalls mit inbegriffen, auf die wir nicht zugreifen können, denn sie laufen, wie der Name sagt, unbewusst ab. Sie sind es, die uns als Person grösstenteils steuern.

Hier kommen wir wieder in Kontakt mit der Hirnforschung. Ich habe schon mehrfach geschildert, wie das Gehirn fähig sein muss, aus einer Vielzahl von Möglichkeiten blitzartig die sinnvollste auszuwählen, um den Weg zu finden. Denken Sie an bedrohliche Situationen, sei es im Strassenverkehr, bei Massenveranstaltungen oder in Katastrophenlagen. Dort ist das Überleben abhängig von Reaktionen, die nicht zuerst überdacht werden können. Frühere Erfahrungen helfen, je mehr und je vielfältiger diese waren, umso besser. So funktioniert das Gehirn eben tatsächlich: Im Hintergrund laufen ständig Prozesse, die regulieren, warnen, beruhigen und ausgleichen, damit der Organismus bestmöglich überlebt. Auf diese Prozesse kann unser Wille nur in geringsten Anteilen Einfluss nehmen.

Andere Ergebnisse der Hirnforschung liefern erstaunliche Hinweise: Der Physiologe Benjamin Libet verwendete das EEG (Hirnstromkurve), um zu zeigen, dass die Aktivität in der motorischen Hirnrinde des Gehirns, also dort, wo die Bewegung gesteuert wird, etwa 0,3 Sekunden früher erkannt werden kann, bevor eine Person die Bewegung ausführt. Andere Labore haben diese Arbeit mit funktionaler Magnetresonanztomographie (fMRT) in variierten Versuchen bestätigt.

Nehmen wir als Beispiel einen lauten Knall. Wie findet unser Gehirn die Ursachen für dieses Sinneserlebnis heraus, damit es die besten Reaktionen vorbereitet? Ohne direkten Zugang zu dessen Ursache muss das Gehirn raten. Und so erinnert es sich in jenem Moment an vergangene Erfahrungen, die den gegenwärtigen Umständen ähneln, um zu erraten, was im nächsten Moment passieren könnte, damit es die nächste Aktion des Körpers vorbereiten kann. Das Erraten – und möglicherweise Korrigieren von Fehlern – ist effizienter als von Grund auf neu zu reagieren.

Die ausgewerteten Vorhersagen sind in der Tat, was das Gehirn Sekundenbruchteile vorher beim Abfeuern der Neuronen beschliesst. Der Entscheid ist gefallen, bevor die Bewegung tatsächlich auftritt, und sie kann nicht mehr zurückgenommen werden. Dieser vorhersagende Prozess findet völlig ausserhalb unseres Bewusstseins statt, ist aber unser ganzes Leben lang präsent. Und eine wachsende Zahl von Wissenschaftlern ist sich jetzt ziemlich sicher, dass er ein Haupttreiber unseres Handelns ist. Er ist übrigens auch die Ursache von Versprechern oder peinlichen Verwechslungen oder Handlungen.

Zur Beruhigung gibt es aber auch die andere Erfahrung: Zahlreichen psychologischen Untersuchungen zufolge macht es dennoch einen Unterschied, ob wir eine Handlung nach bewusstem, gezieltem Nachdenken ausführen. Durchdachte Absichten erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns unter bestimmten Umständen anders verhalten werden.

Das Selbst wird durch die Lebensgeschichte geprägt, und wenn es mit Geld, Macht und politischer Absicht potenziert wird, dann kann es verheerende Folgen haben, wie die gegenwärtige und die vergangene Geschichte zeigen. Nur durch gute Absichten kann sie nicht korrigiert werden.

Max Handschin

ZEIT FÜR NEUES WISSEN

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