Die Schmiede-Dynastie im Oberdorf
19.07.2022 Bezirk Sissach, OltingenChristian Horisberger
Der Ururgrossvater war Schmied, der Urgrossvater war Schmied, der Grossvater und der Vater ebenso. Und nun ist es Rolf Gysin, der in der «Schmittä» dem jahrtausendealten Handwerk nachgeht und so die Familientradition fortführt. Doch tönt das ...
Christian Horisberger
Der Ururgrossvater war Schmied, der Urgrossvater war Schmied, der Grossvater und der Vater ebenso. Und nun ist es Rolf Gysin, der in der «Schmittä» dem jahrtausendealten Handwerk nachgeht und so die Familientradition fortführt. Doch tönt das charakteristische Geräusch, wenn Eisen auf Eisen trifft, längst nicht mehr jeden Tag aus der Schmiedewerkstatt im Oltinger Oberdorf.
Gysin ist pensioniert und er nimmt sich die Freiheit, nur dann am Amboss die Funken stieben zu lassen, wenn er auch Lust darauf hat. Oder aber ein Kunde hat sich von einer absichtlich überrissenen Offerte nicht abschrecken lassen und der Schmied muss dann wohl oder übel eine Arbeit ausführen, die er gar nicht wollte. Rolf Gysin grinst schelmisch unter seiner Baseballmütze hervor und setzt das Elektro-Gebläse der Feuerstelle in Gang. Der Luftstrom bringt die Steinkohle in der Esse innert weniger Minuten vom Glimmen zur Weissglut bei einer Temperatur von mehr als 1200 Grad. Sein «Grossätti» habe die Kohle in der Esse noch mit einem handbetriebenen Blasbalg zum Glühen bringen müssen, kommentiert Gysin.
Dennoch fühlt man sich in der «Schmittä», die sich im Erdgeschoss von Gysins Wohnhaus beim «Ochsen» befindet, in Grossvaters Zeiten zurückversetzt. Feuerstelle und Amboss, Herz und Seele der Werkstatt mit russgeschwärzten Wänden, könnten viele Jahrhunderte alt sein. Ebenso die handgeschmiedeten Feuerzangen und die gut und gerne 30 Hämmer mit unterschiedlich geformten Köpfen.
Die Elektrogeräte in der Werkstatt stammen teils aus einer Zeit, als Maschinen noch für ein Menschenleben gebaut wurden. Auf 70 Jahre schätzt Gysin die Standbohr- und die Schleifmaschine, die ihm noch immer treue Dienste leisten. Wohl ein Jahrhundert alt ist der massive automatische Lufthammer, des Schmieds bester Freund und Helfer. Denn der Automat wird niemals müde. Eine Werkbank, Schweissvorrichtungen, halb oder ganz fertige Arbeiten, allerlei Hilfsmaterial, Flüssigkeiten in Fässern und Dosen, weiteres Werkzeug an den Wänden und auf Regalen in Blechkoffern sind mehr oder weniger ordentlich im ganzen, dank mehrerer Fenster hellen Raum verteilt.
Mit einer der etwa 20 geschmiedeten Feuerzangen, die am Rand des Rauchfangs über der Feuerstelle hängen, zieht Gysin ein flaches, etwa meterlanges Metallprofil hellgelb glühend aus der Steinkohle. Er schlägt das Eisen mit einem Hammer auf dem Amboss, bis es sich zunächst orange verfärbt und dann wieder seine natürliche Farbe annimmt. Dann schiebt er das Eisen wieder in die Glut. Diese Prozedur wiederholt er, bis das Werkstück die gewünschte Form hat. «Auf ein glühendes Eisen klopfen kann jeder. Schmieden nicht», kommentiert Gysin das Ergebnis.
Praktisches vom Praktiker
Schnörkel und Schmuckes sind weniger seine Sache. Präzises und Praktisches – solche Arbeiten gefallen ihm schon eher: Spezialanfertigungen für Landmaschinen, Geländer für Balkone und Treppen, Fenstergitter, gehärtete Spitzeisen und Meissel oder Beschläge für die Türen an Pferdeboxen, wie er sie beim Besuch der «Volksstimme» für einen Reitstall in Arbeit hat.
Während Gysin den Hammer niedersausen lässt, blähen sich seine Wangen wie die eines Langstreckenläufers. Ansonsten ist ihm die Anstrengung trotz seiner 64 Jahre nicht anzumerken. Was nicht bedeutet, dass er das Alter nicht spürt: «Früher, als ich für meinen ‹Ätti› Hufnägel in Form schlug, brachte ich sie mit dem Hammer noch zum Glühen», sagt er. Die dafür erforderliche, sehr hohe Schlagfrequenz würde er heute kaum noch schaffen.
Das Herstellen von Hufnägeln – «mit einem quadratischen Querschnitt, sonst passen sie nicht in die Öffnungen in den Hufeisen» – und all die anderen Fertigkeiten mit Hammer und Amboss habe ihm sein «Ätti» beigebracht, erzählt Gysin. Der Grossvater und der Vater haben das Handwerk auswärts gelernt und später zusätzlich zur Arbeit in der Schmiede den Bauernhof der Familie bewirtschaftet.
Rolf Gysin ging beruflich fremd: «Wäre es nach mir gegangen, wäre ich Metzger geworden», erzählt er. Aber der Vater habe ihn lieber bei einem Landmaschinenmechaniker in der Lehre gesehen. Denn auf dem Bauernhof gab es allenthalben Maschinen und Geräte zu reparieren. Da kam es günstiger, wenn die Arbeit in der Familie bleibt. Lange hielt es ihn aber nicht bei Traktoren und Heuwendern. Rolf Gysin wurde bei den SBB Lokführer und zog während 40 Jahren Personen- und Güterwagen quer durch die Schweiz. 2020 liess er sich vorzeitig pensionieren. Der Druck im Führerstand sei ihm zu gross geworden, sagt er.
Das Arbeiten ist dem Rentner nach seinem Abschied von den SBB nicht etwa verleidet. Ganz im Gegenteil: Er repariert für die Oltinger Maschinengenossenschaft die Landmaschinen, seit 30 Jahren ist er Brunnmeister im Dorf – das Amt wird er Ende Jahr abgeben –, ausserdem geht er im eigenen Wald immer noch «ins Holz». Und nebenbei hat er ja noch einen Haushalt zu führen: Gysins Ehefrau Franziska ist noch berufstätig, so schwingt der Gatte Kochlöffel und «WC-Bürschteli». Und – eben – den Hammer: In der «Schmittä» sei er im Durchschnitt einen Tag in der Woche anzutreffen, sagt «Schmids Rolf», wie ihn die älteren Oltinger nennen.
Viel Arbeit dank Passstrasse
Als der Warenverkehr zwischen Basel und Aarau hauptsächlich mit Fuhrwerken über die «Schafmatt» abgewickelt worden ist, haben im kleinen Dorf am Fusse des Jura-Übergangs mehrere gewerbliche Fuhrhalter und mindestens zwei Schmiede ihr Auskommen gefunden – hauptsächlich mit dem Beschlagen von Pferden. Das ist lange her. In der zweiten Oltinger Schmiedewerkstatt an der Hauptstrasse 58 ist die Glut schon vor Ewigkeiten erloschen und auch in der «Schmittä» der Gysins werden längst keine Pferde mehr beschlagen.
Wie lange das metallische Geräusch, wenn Eisen auf Eisen trifft, im Oberdorf noch ertönen wird, steht in den Sternen. Rolf Gysin sähe es gerne, wenn sein 30-jähriger Sohn Philipp die Tradition weiterführen würde. Als gelernter Metallbauer habe er nicht die schlechtesten Voraussetzungen dafür. Aber zumindest bis heute habe ihn das Feuer fürs Schmieden nicht gepackt.
In loser Reihe stellt die «Volksstimme» in den kommenden Woche eine Auswahl von uralten Handwerken vor, die heute noch ausgeübt werden.
Schmieden – eines der ältesten Handwerke der Welt
ch. Aufgrund frühester Funde aus Indien und Ägypten ist die Schmiedekunst vor über 5000 Jahren entstanden. Damit ist das Schmieden eines der ältesten Handwerke der Welt. Als Erstes wurde Meteoriteneisen geschmiedet. Mit Beginn der Eisenzeit vor 3800 Jahren wurde in Kleinasien durch die Hethiter erstmals Eisen in Brennöfen verhüttet. Durch die Vielfältigkeit der Aufgaben und durch den zunehmenden Handel zwischen den Städten und Regionen spezialisierten sich im Mittelalter die Schmiede: Waffen-, Zeug-, Nageloder Kleinschmiede. Mit dem steigenden Wohlstand kam es zu einer Blüte von Handwerk und Handel. Es bildeten sich die ersten Standesvertretungen, die Zünfte (ab dem 12. Jahrhundert).
Durch die Fähigkeit zum Erschaffen von Gegenständen mithilfe des Feuers hatten Schmiede in der Gesellschaft seit jeher eine Sonderstellung. Im Altertum haftet ihnen immer etwas Magisches und Mystisches an.