Das Wetter ist des Müllers Lust
26.07.2022 Bezirk Sissach, MaisprachBrigitte Keller
«Wenn du ‹Fallzahl› googelst, dann findest du nur die neusten Corona-Zahlen», sagt Sämi Graf beim Besuch in der Mühle in Maisprach und lacht. Ein Scherz, den versteht, wer sich mit dem Mahlen von Getreide und dem Backen von Brot auskennt. Doch alles ...
Brigitte Keller
«Wenn du ‹Fallzahl› googelst, dann findest du nur die neusten Corona-Zahlen», sagt Sämi Graf beim Besuch in der Mühle in Maisprach und lacht. Ein Scherz, den versteht, wer sich mit dem Mahlen von Getreide und dem Backen von Brot auskennt. Doch alles der Reihe nach.
Ein Traktor mit Kipper fährt rückwärts an den Abladeschacht bei der Getreidemühle in Maisprach. Der Bauer aus Rheinfelden hat mit dem Müller vereinbart, dass er seinen Dinkel (Urdinkel) hier mahlen lassen wird. In der Mühle der Familie Graf wird hauptsächlich Label-Getreide verarbeitet. Bevor abgeladen werden kann, muss das dazugehörige Zertifikat kontrolliert werden. Die Zertifikate stammen von Bio Suisse, IP-Suisse und/oder «UrDinkel» und geben Auskunft darüber, unter welchen Labelvorgaben das Getreide erzeugt und damit verkauft werden darf.
Der nächste Schritt ist die sensorische Prüfung. Dafür wird der Schieber am Kipper einen Spaltbreit geöffnet und die ersten Körner fallen in den Schacht. Graf nimmt eine Handvoll davon, schaut die Körner genau an und beschnuppert sie. Die Augen und die Nase des Profis würden Probleme schnell erkennen. Zum Glück ist 2022 ein sehr vielversprechendes Getreidejahr für die Landwirte und die Müller. Im Gegensatz zum vergangenen Jahr, als das sehr nasse Wetter dem Getreide stark zugesetzt hatte.
Der Dinkel wird in den Schacht gekippt und gelangt zu zwei Sieben, wo die Grobreinigung stattfindet. Fremdkörper wie Gräser oder Stroh werden hier mit Luft abgesaugt. Danach kommt der Dinkel in das Silo zum Ein- und Zwischenlagern. Während des Ablassens des Getreides stellt Graf ein Durchschnittsmuster zusammen und misst respektive berechnet das Hektolitergewicht, die Feuchtigkeit und den Proteingehalt der Ware. Je nach Ergebnis gibt es einen Abzug oder einen Zuschlag.
Die Dinkel-Spezialisten
Jetzt wird auch die erwähnte «Fallzahl» ermittelt. Dafür muss Graf zuerst den Dinkel entspelzen, also von der fest mit dem Korn verwachsenen, beim Dreschen nicht abfallenden Spelze befreien. Dafür gibt Graf die Mustermenge Dinkel in einen Entspelzer, der mit einem Schlagreibverfahren funktioniert. Das Entspelzen ist eine besondere Leistung, welche die Graf-Mühle ihren Kunden seit Jahren anbietet. «Als der Dinkel in Mode kam, haben wir uns darauf spezialisiert und entsprechend investiert.» Zudem haben die Grafs bei den Bauern für den Anbau von Dinkel respektive Urdinkel geworben.
Für das Muster trennt Graf nun in einem Handsieb Körner und Spelze und stellt dann eine kleine Menge Mehl daraus her. Ab hier übernimmt Sonja Graf, Sämi Grafs Ehefrau. Sie arbeitet überall im Betrieb mit und führt nun die Fallzahlen-Prüfung durch. Die Fallzahl ist eine einfache und schnelle Methode zur Prüfung der Backfähigkeit des Getreides. Die Fallzahl ist die Zeit in Sekunden, die ein standardisierter Stab benötigt, um durch einen Stärkekleister aus Mehl und Wasser hindurchzufallen, einschliesslich 60 Sekunden Rührzeit. Eine hohe Fallzahl ist hier positiv. Der angelieferte Dinkel weist einen sehr guten Wert auf.
Vor dem Aus bewahrt
Bei der Mühle in Maisprach werden innerhalb von zwei bis drei Wochen rund 400 Tonnen Weizen und 1000 Tonnen Dinkel angeliefert. Die 400 Tonnen Weizen werden komplett in der Graf-Mühle weiterverarbeitet. Von den 1000 Tonnen Dinkel werden rund 100 Tonnen für den Eigenbedarf weiterverarbeitet, 900 Tonnen gehen an andere Verarbeiter.
Die Mühle und der Bauernbetrieb der Familie Graf gehören den Brüdern Stephan und Sämi Graf, wobei Stephan Graf die Hauptverantwortung für die Landwirtschaft trägt und Sämi Graf für den Betrieb der Mühle. Beide Ehefrauen, Käthi Graf und Sonja Graf, arbeiten ebenfalls im Betrieb mit. Und die nächste Generation, fünf Kinder insgesamt, helfen auch bereits tatkräftig mit.
Der Grossvater hatte den Grundstein zur Mühle gelegt, der Vater den Betrieb weitergeführt. Mitte der 1990er-Jahre stand die Stilllegung der Mühle zur Debatte, da nur noch geringe Getreidemengen gemahlen wurden und es sich nicht mehr lohnte. Die Familie entschied sich gegen die Stilllegung. Sohn Sämi, damals zwar erst zwölfjährig, zeigte grosses Interesse und absolvierte eine Ausbildung zum Müller, Fachrichtung Lebensmittel und zusätzlich Fachrichtung Tierfutter.
150 kg Mehl aus 200 kg Getreide
Bevor das Getreide gemahlen wird, im Gebäude auf der anderen Seite des Strässchens, erfolgt die Entspelzung des Dinkels und die Feinreinigung des Getreides. Die letzten Unreinheiten werden herausgefiltert. Dafür durchläuft das Getreide ein mehrstufiges System aus Sieben und Gebläse sowie einen Trieur. Dort werden gebrochene oder kurze, runde Körner aussortiert.Kurze Körner werden dort getrennt aufgefangen und können als Tierfutter verwendet werden.
Nun kommt das von allen Unreinheiten befreite Getreide in die zweistufige Mühle. Diese besteht einerseits aus einem Walzenstuhl, wo die Körner gemahlen werden, und dem Sichter, der das gemahlene Korn nach Grösse, bis zu einer Feinheit von 130 my (0,13 Millimeter), separiert. So entstehen Standardmehle und Spezialmehle respektive Aufmischungen (Spezialmischungen). Pro Stunde werden rund 200 Kilogramm Getreide vermahlen, woraus 150 Kilogramm Mehl entstehen. Die Reste landen im Behälter für Tierfutter. Die Maschine, die diesen Dienst Stunde um Stunde zuverlässig verrichtet, wurde im Jahr 1941 gebaut.
Die fertigen Mehle werden in 25-Kilo-Säcke abgefüllt, palettisiert und ins Lager gebracht. Von dort werden die Säcke entweder direkt ausgeliefert oder in die eigene Abpackerei gebracht, wo kleinere Säcke und die verschiedensten Mischungen vorbereitet werden. Die Mehle werden im eigenen Laden in der Mühle verkauft und weiter an Wiederverkäufer und Endabnehmer in der Region ausgeliefert.
In loser Folge stellen wir Personen oder Betriebe vor, die heute noch ein Jahrtausende altes Handwerk praktizieren. Bereits erschienen: «Die Schmiede-Dynastie im Oberdorf» (19. Juli).
Mit Wasserkraft angetrieben
bk. Mühlen gibt es seit 2000 Jahren in der Schweiz. Die ersten Wasserräder sind von den Römern zum Antrieb von Getreidemühlen und Schöpfwerken eingesetzt worden. Ende des 19. Jahrhunderts liefen 6000 bis 7000 Wasserräder. Diese wurden später durch Turbinen und dann durch Elektromotoren ersetzt.
Der Selbstversorgungsgrad an Mahlgetreide in der Schweiz sank auf einen Grad von 20 Prozent im Jahr 1914, was in den folgenden Jahren zu einer schwierigen Versorgungslage im Land führte. In der Folge wurden verschiedene Massnahmen ergriffen, unter anderem die Verpflichtung der Landwirte, bestimmte Mengen an Getreide bei sich einzulagern und bei Bedarf in einer regionalen Mühle zu verarbeiten, «Kundenmüllerei» genannt. Dadurch wurde der Selbstversorgungsgrad wieder erhöht und sicherte in den folgenden Jahren auch kleinen Mühlen ein regelmässiges Einkommen. Im Jahr 1985 hat das Stimmvolk diese Pflicht abgeschafft – das Mühlensterben wurde dadurch beschleunigt.
In der Schweiz werden auf über 143 000 Hektaren Ackerland Brot- und Futtergetreide angebaut, was rund 14 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche entspricht. Diese Menge deckt den heimischen Bedarf an Mahlgetreide zu über 80 Prozent. Heute sind etwa 250 bis 300 historische Mühlen renoviert und treiben Getreidemahlgänge, Sägen, Walken, Stampfen, Hämmer und vieles andere an. Einige der historischen Mühlen können jeweils im Frühling am Schweizer Mühlentag besichtigt werden. Weitere rund 60 Getreidemühlen werden noch professionell betrieben, wie jene der Familie Graf in Maisprach. Die vier grössten Mühlen der Schweiz haben einen Marktanteil von rund 75 Prozent.
Quelle: Christoph Hagmann und Marc Nyffenegger, Vereinigung Schweizer Mühlenfreunde VSM/ASAM