Spitteler erforscht, Raff entdeckt
24.06.2022 Bezirk Sissach, WenslingenJürg Gohl
Anfang und Ende zugleich war das für ihn: Als das Sinfonieorchester Gelterkinden im Spitteler-Jahr 2019 ein Konzert zu Ehren des Literatur-Nobelpreisträgers mit Werken grosser Komponisten mit Bezug zu Carl Spitteler gab, verabschiedete sich Flötist Ueli Gisi ...
Jürg Gohl
Anfang und Ende zugleich war das für ihn: Als das Sinfonieorchester Gelterkinden im Spitteler-Jahr 2019 ein Konzert zu Ehren des Literatur-Nobelpreisträgers mit Werken grosser Komponisten mit Bezug zu Carl Spitteler gab, verabschiedete sich Flötist Ueli Gisi aus Altersgründen von seinem Orchester. Leicht fiel dies dem früheren Biologie-Professor nicht, war ihm doch das Musizieren spätestens nach seiner Pensionierung zum Lebensinhalt geworden. 24 Jahre spielte er im Orchester Gelterkinden und war dazu die letzten zehn Jahre dessen organisatorischer Leiter. «Da fiel ich kurz in ein Loch», gewährt Gisi Einblick in sein Innenleben.
Zuvor steuerte er zum 2020 erschienenen Jubiläumsbuch über Spitteler von Stephan Schneider (wie Gisi ein Wenslinger) einen umfassenden Beitrag zu «Carl Spitteler und Zeitgenossen in Musik und Lyrik» bei. Doch mit dem Spitteler-Konzert, für das Ueli Gisi riesige Vorarbeit geleistet hatte, kam unverhofft eine neue Herausforderung auf ihn zu, die ihm keine Zeit für Selbstmitleid liess. Im Nachgang zu seiner Arbeit zu Spitteler erforschte er alle Sinfonien, die zwischen 1850 und 1950 erschienen sind. Er stiess dabei auf einen Schweizer Komponisten, den er bisher nur vom Namen her kannte: Joachim Raff.
200 Jahre Joachim Raff
Raff kam am 27. Mai 1822, also vor genau 200 Jahren, in Lachen am oberen Zürichsee zur Welt und starb am 24. Juni 1882 in Frankfurt. Seine Werke, darunter elf Sinfonien, wurden zu Lebzeiten ebenso oft gespielt wie die seiner grossen Zeitgenossen. Er aber geriet schnell in Vergessenheit. Beim Studium der Musik fiel Ueli Gisi auf, dass ihm einzelne Motive und Passagen aus Raffs Werken bekannt vorkamen und grosse Ähnlichkeiten etwa zu Brahms, Tschaikowsky und Dvorák zeigten. Und Gisi stellte überraschend fest: Raff hatte sie zuerst geschrieben, er inspirierte also die grossen Zeitgenossen stark.
Damit will er den Grossen nicht unterstellen, sich heimlich bei Raff bedient zu haben. Dessen Musik wurde damals oft gespielt und sie könne die Zeitgenossen auch unbewusst beeinflusst haben, sagte Ueli Gisi im Januar, als er im Geburtsort des Komponisten zum Auftakt des Jubiläumsjahrs über seine Entdeckungen referierte. Der Titel seines Vortrags: «Wer hats erfunden? Die Klangwelt in Joachim Raffs Sinfonik im Vergleich zu musikalischen Vorbildern und Nachfolgern anhand von Hörbeispielen». Seine Entdeckung, dass Raff am Ursprung vieler klassischer Ohrwürmer stehe, sorgte selbst in der Joachim-Raff-Gesellschaft für Erstaunen.
Gisi hofft, dass die grossen Musikhäuser der Schweiz «ihren» Komponisten dank des Jubiläums entdecken und vermehrt ins Programm aufnehmen. Er selber stuft Raffs Fähigkeiten, romantische Motive wie Wasser, Natur, Geisterwesen und natürlich Liebe musikalisch nachzubilden, jedenfalls sehr hoch ein. Er führte beim Referat in Lachen den 2. Satz in Raffs 3. Sinfonie als Beispiel an und sagte: «Schöner und berührender kann man nicht mehr komponieren.» Vergleiche müsse Raff keine scheuen, sagt der Wenslinger, der selber immer wieder zu musikalischen Entdeckungen in sein Archiv am Leimenweg einlädt.
Zwei Abende, dann der Nächste
So geschieht das auch am Freitag – also just an Raffs 140. Todestag – am ersten von zwei Raff-Abenden, an denen 20 Lieder des Komponisten vorgetragen werden. Der zweite folgt am kommenden Mittwoch in Liestal (siehe «Volksstimme» vom Dienstag, Seite 11). Für die Sopranistin Jeanne Pascale Künzli und Tenor Felix Rienth sowie Pianistin Andrea Wiesli bringt es der Auftritt mit sich, dass sie alle ein ihnen unvertrautes Liedgut einüben mussten. Doch Raffs Lieder sind eingängig, das erleichtert ihnen die Aufgabe. Gastgeber Gisi will an den beiden Abenden die Musik sprechen lassen und selber nur wenige Worte über den Komponisten und seine erstaunlichen Werke verlieren.
Der Komponist hat Ueli Gisi, einst von Beruf Forscher in der Biologie und heute Forscher in der Musik, neu inspiriert. Nach Raff will er sich dem Gesamtwerk weiterer unbekannter Musiker zuwenden wie August Klughardt und dem Schweizer Paul Juon. Letzterer liegt in Langenbruck begraben und wurde nicht vor 200, aber vor 150 Jahren geboren.