Kahlschlag in Kirschbaumanlage
30.06.2022 Baselbiet, Häfelfingen, Wirtschaft, LandwirtschaftRütihof-Bauer fällt 180 erntereife Bäume
Der Häfelfinger Landwirt Hans-Jörg Müller hat in seiner Spindelkirschbaumanlage Tabula rasa gemacht. Er fällte 180 zum Teil behangene Bäume. Die Kirschessigfliege und veränderte Marktansprüche haben das Geschäft ...
Rütihof-Bauer fällt 180 erntereife Bäume
Der Häfelfinger Landwirt Hans-Jörg Müller hat in seiner Spindelkirschbaumanlage Tabula rasa gemacht. Er fällte 180 zum Teil behangene Bäume. Die Kirschessigfliege und veränderte Marktansprüche haben das Geschäft ruiniert.
Christian Horisberger
Am Dienstag machte in Bauernkreisen ein auf Instagram gepostetes Video die Runde. Die erste Sequenz zeigt eine scheinbar intakte ungedeckte Spindelkirschbaumanlage. In der zweiten Szene ist ein Mann zu sehen, der innert weniger Sekunden drei Bäume mit einer Motorsäge fällt. Am Ende der Serie wird das Ergebnis der Aktion dokumentiert: Ein Kahlschlag. Kein Baum der Plantage hat überlebt. Der Kommentar dazu lautet: «ruetihof.haefelfingen – vorzeitiges Saisonende bei der Kirschenernte. Unter anderem der Essigfliege zu verdanken, wie auch dem Abnehmer.»
Auf unseren Anruf lädt uns Landwirt Hans-Jörg Müller zu einem Augenschein am «Tatort» ein. Der Rütihof und die Kirschbaumanlage befinden sich unweit der Strasse zwischen Häfelfingen und Zeglingen. Hier braucht der Kirschenliebhaber eine dicke Haut: Ein Teil der stark belaubten Bäume ist zu einem grossen Haufen aufgeschichtet worden, der Rest liegt kreuz und quer auf der Wiese. Viele der 180 Bäume sind mit grossen, prallen Früchten behangen. Wie kann man nur?
Bauer Müller beginnt zu erzählen. Am Montag habe sein Sohn eine erste Charge mit frisch gepflückten Tafelkirschen der Sorte Kordia bei der Landi in Gelterkinden abgeliefert. Trotz sorgfältiger Sortierung auf dem Hof seien an der Annahmestelle bei der Überprüfung der Früchte Einstiche von Kirschessigfliegen festgestellt worden. Die ganze Fuhre, 80 Kilogramm, sei zurückgewiesen worden: «Diesbezüglich gilt bei der Landi Nulltoleranz», kommentiert der Landwirt. Dafür habe er auch volles Verständnis. Geärgert hat er sich trotzdem. Denn wegen des Befalls sei auch bei anderen Grossabnehmern an einen Verkauf der Kirschen nicht mehr zu denken. Auch für die Konserve oder zum Brennen seien sie nicht erwünscht. Der Einnahmenausfall belaufe sich auf eine tiefe fünfstellige Summe.
Investieren oder aufhören
Der 64-jährige Landwirt besprach sich mit seinem Sohn Dominik, der den Rütihof bald übernehmen, nebenher aber als Zimmermann tätig bleiben wird. Der Anbau von Kirschen ist aufwendig: Nur mit grossen Anlagen, Regendächern, Bewässerungsanlagen und Netzen zum Schutz vor der Kirschessigfliege kann zuverlässig und rentabel produziert werden – sofern Fröste ausbleiben. «Ohne dies alles ist es eine Lotterie», so Müller. In guten Jahren sind auf dem Rütihof mit Kirschen, Zwetschgen und Mirabellen bis zu 30 Prozent des Einkommens erwirtschaftet worden. Der Markt und die Kirschessigfliege veränderten die Situation drastisch. Nicht mehr alle Sorten sind gefragt. Hans-Jörg Müller und sein Sohn machten sich seit längerer Zeit Gedanken über die Zukunft des Steinobstanbaus – und haben sich gegen Investitionen von 120 000 bis 150 000 Franken für gedeckte Anlagen und damit gegen die Kirsche entschieden. «Die ersten 100 Bäume haben wir bereits im Frühling gefällt», sagt Müller, 180 weitere sollten nach der Ernte im kommenden Herbst folgen.
Nach dem Tiefschlag am Montagabend zogen Vater und Sohn die sofortige Fällung vor. 45 Minuten lang röhrte die Kettensäge, dann lagen alle 12- bis 15-jährigen Bäume am Boden. Der Entscheid sei spontan gewesen, sagt der Vater, von einer Kurzschlussreaktion könne aber keine Rede sein. Er wisse von anderen Bauernfamilien, die bei einem Generationenwechsel ähnlich entschieden hätten. Müller deutet in die Ferne: «Dort befand sich bis vor wenigen Jahren eine gedeckte Anlage. Die Regendächer hätten vom Besitzer ersetzt werden müssen. Statt das Geld auszugeben, wurde die ganze Anlage aufgegeben.»
Die 300 Mirabellenbäume auf dem Rütihof wird das gleiche Schicksal ereilen wie die Kirschbäume: «Vor zwei Jahren wurden wir von der Landi informiert, dass der Grossverteiler, den sie beliefert, an unserer Sorte nicht mehr interessiert ist», so Müller. Immerhin: Die Zwetschgen der Sorte «Cacaks Schöne» sei noch gefragt. Die 100 Bäume würden weiter bewirtschaftet. Ebenfalls lassen die Müllers ihre Hochstamm-Kirschbäume stehen – «fürs Landschaftsbild und den Direktverkauf».
Mutterkühe und Truthähne
40 Jahre Obstanbau, alle Bäume eigenhändig gepflanzt – es habe ihm wehgetan, die Bäume fallen zu sehen, sagt Hans-Jörg Müller, erst recht, weil sie reife Früchte trugen: «Anderswo in der Welt hungern die Menschen.» Doch hier könne man die schadhaften Kirschen nicht absetzen. Warum liess er die Bäume nicht wenigstens von Passanten «in Selbstbedienung» ernten? «Dann hätte ich ein Geläufe auf dem Gelände und müsste das kontrollieren. Dafür fehlen mir die Nerven.»
Auf Instagram wurde vorgestern ein Video mit einem ähnlich frustrierenden Inhalt gepostet: Ein Mann spediert kistenweise verkaufsfertige Kirschen auf den Miststock. Der Kommentar der betroffenen Liestaler Bäuerin und Präsidentin der Bäuerinnen und Landfrauen beider Basel, Evelyne Gasser, dazu: «Für alle, die keine Spritzmittel wollen und denken, alles ist gut … Zwei Tage Arbeit mit zehn freiwilligen Helfern werden nicht angenommen.»
NACHGEFRAGT | BEAT GISIN, GESCHÄFTSFÜHRER LANDI REBA AG
«Wir handeln im Sinn der Bauern»
Herr Gisin, wie hoch ist der Druck der Kirschessigfliege auf die Kirschenernte?
Beat Gisin: Er ist höher als in anderen Jahren und aufgrund der Witterung und des Nahrungsangebots für den Schädling auch schon sehr früh. Am stärksten betroffen sind ungeschützte Anlagen. Auch Netze bieten keinen absoluten Schutz vor der Kirschessigfliege, der Befall lässt sich aber stark eindämmen.
Sie dürften Ihr Personal angewiesen haben, bei der Kirschenannahme besonders gut auf Einstiche von Kirschessigfliegen zu achten.
Das ist richtig. Wenn man sich einer Problematik bewusst ist, hält man eben ein besonders wachsames Auge darauf. Den Bauern, die schadhafte Kirschen anliefern, mache ich keinen Vorwurf: Man kann sich beim Sortieren noch so viel Mühe geben, aber Einstiche auf frisch geernteten Früchten sind kaum zu erkennen. Erst nach einer gewissen Zeit beginnt sich das Fruchtfleisch an den Einstichstellen zu zersetzen und zu faulen. Solche Früchte sind nicht mehr geniessbar. Später beginnen die betroffenen Kirschen zu «saften», was zu Fäulnis-Nestern in der Schale führen würde.
Es gelte bei der Landi Nulltoleranz, wenn bei der Abgabe betroffene Kirschen entdeckt werden, sagt der Häfelfinger Kirschenproduzent Hans-Jörg Müller.
Wenn wir bei einem Posten mehrere schadhafte Früchte feststellen, können wir ihn nicht annehmen. Diese Kirschen sind nicht mehr verkaufsfähig. Denn niemand ist bereit, im Laden für eine Schale schadhafte Kirschen 8 bis 9 Franken auszugeben. Mehr noch: Falls die Konsumentinnen und Konsumenten im Früchteregal faule Kirschen vorfinden, weichen sie auf andere Früchte aus und der Kirschenverkauf fällt zusammen. Wir handeln also im Sinn der Bauern. Aber selbstverständlich verstehe ich als Bauernsohn, der oft selber bei der Kirschenernte geholfen hat, wie frustrierend es für die Produzenten ist, wenn sie nach all der Arbeit die reifen Früchte nicht zu Geld machen können.
Ist es in dieser Saison schon öfter vorgekommen, dass die Landi Reba AG Ware wegen Kirschessigfliegen-Stichen nicht angenommen hat?
Mir ist eine Handvoll Fälle bekannt, bei denen es Beanstandungen gegeben hat.
Was kann der Produzent mit der Ware dann noch anfangen?
Nichts mehr. Durch den Einstich kommt es zu einem Zerfall des Fruchtfleisches. Die Früchte sind kaputt und können auch industriell nicht mehr verwertet werden. Selbst mit seriöser Sortierarbeit ist kaum etwas zu retten. Wichtig ist, dass man die reifen Kirschen nicht zu lange an den Bäumen hängen lässt, denn je süsser sie sind, desto interessanter werden sie für den Schädling. Andererseits dürfen sie nicht zu früh geerntet werden, denn auch die Konsumenten mögen süsse Kirschen.
Wir befinden uns bereits in der zweiten Haupterntewoche. Sind Sie mit dem bisherigen Ergebnis zufrieden?
Die Kaliber und die Qualität der Kirschen sind gut. Wir sind zufrieden. Wegen Frösten sind die Ernteerwartungen in unserer Region weniger hoch als anderswo in der Schweiz, diese können aber erfüllt werden.
Interview ch.