Herzlich willkommen im Zigeunerleben
01.04.2022 Bezirk Sissach, Wittinsburg, GesellschaftDer Durchgangsplatz «Holchen» wird eingeweiht
Vom 4. bis 18. April begrüssen Fahrende Besucher auf dem Durchgangsplatz «Holchen» in Wittinsburg zu ihren «Zigeuner-Kultur-Tagen». Dabei gewähren sie einen Einblick in ihr Leben. Am 8. April findet die offizielle Einweihung des frisch ...
Der Durchgangsplatz «Holchen» wird eingeweiht
Vom 4. bis 18. April begrüssen Fahrende Besucher auf dem Durchgangsplatz «Holchen» in Wittinsburg zu ihren «Zigeuner-Kultur-Tagen». Dabei gewähren sie einen Einblick in ihr Leben. Am 8. April findet die offizielle Einweihung des frisch sanierten Durchgangsplatzes statt.
Brigitt Buser
Einige können sich vielleicht noch an die Zeit erinnern, als Zigeuner ins Dorf kamen, von Haustür zu Haustür gingen und ihre Dienste als Kesselflicker, Scherenschleifer und so weiter anboten oder selbst geflochtene Weidenkörbe verkauften. Meist erhielten sie einen Standplatz für ihre Wagen ausserhalb des Dorfs auf dem Land eines Bauern. Einerseits bewundernswert, dass diese Menschen den Mut aufbrachten, ein «Zigeunerleben» zu führen, das nur wenig Verpflichtungen und viel Freiheit beinhaltet, sie andererseits aber auch mit Zurückhaltung und Misstrauen beäugt wurden. Denn diesen Bevölkerungsgruppen wurden ausgeprägte, von der Mehrheitsbevölkerung abweichende Eigenschaften zugeordnet, weshalb sie mit Vorurteilen behaftet waren und auch immer noch sind.
Zigeuner, wie man Fahrende früher nannte, dürften ursprünglich aus Nordindien stammen und reisten Richtung Europa. Uns ist vor allem die Ethnie Roma bekannt, wie die in Ost- und Südeuropa beheimateten Angehörigen der Fahrenden bezeichnet werden. «Sinti» nennen sich die seit dem ausgehenden Mittelalter in Mitteleuropa beheimateten Angehörigen der Minderheit.
In der Schweiz leben heute vor allem diese beiden Ethnien. Davon zwischen 30 000 und 35 000 Schweizer Jenische. Es wird angenommen, dass sich diese Ethnie in Zeiten der spätmittelalterlichen Kriegswirren gebildet hat. Bei der Ethnie Sinti sind es einige Hundert.
Besonders die Jenischen dürften der breiten Bevölkerung seit dem Projekt «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» bekannt sein, das unter der Stiftung Pro Juventute gegründet wurde und zwischen 1926 und 1972 aktiv war. Mit der Unterstützung der Vormundschaftsbehörden wurden Hunderte Kinder von Fahrenden – insbesondere Jenischen – den Eltern weggenommen, mit dem Ziel, sie zu sesshaften, angepassten Menschen zu machen. Als das Projekt aufgrund des öffentlichen Drucks 1972 eingestellt wurde, waren bis dann rund 600 Kinder in Heimen oder bei Zieheltern untergebracht. Ziel dabei war, die Kinder dem Einfluss der als asozial eingestuften minderheitlichen Lebensverhältnisse zu entfremden und ihnen die vorherrschende mehrheitsgesellschaftliche Lebensweise anzugewöhnen und sie auch zu «brauchbaren» Arbeitern für die Gesellschaft heranzuziehen.
Seit 1997 sind all diese Ethnien als nationale Minderheiten anerkannt. Alle diese Gemeinschaften sind in ihrer Kultur stark durch ihre Heimatländer geprägt und müssen daher auch heute noch gegen Vorurteile kämpfen. Auch steht ihnen immer noch zu wenig Lebensraum zur Verfügung.
Halteplätze gesucht
Die meisten der «fahrenden» Ethnien sind mittlerweile sesshaft. Alle gehen einem Beruf nach. Dazu müssen sie in der Schweiz gemeldet sein und Steuern zahlen. 2000 bis 3000 Angehörige der Ethnien Sinti und Jenische machen sich aber jedes Jahr auf die Reise, da dies ihnen das Gefühl von Freiheit gibt. Jedoch nicht mehr mit Ross und Wagen, sondern mit dem Wohnwagen. Dabei gehen sie auch ihrer Arbeit nach, wobei sie sich hier immer wieder neu erfinden müssen.
Ein grosses Problem stellt hier aber das Fehlen von Halteplätzen dar, da sie aufgrund strengerer behördlicher Auflagen nicht mehr wie früher bei Bauern nach Standplätzen gegen ein Entgelt anfragen können. «Um den Fahrenden Halteplätze und somit ihre traditionelle Lebensweise gewährleisten zu können, setzt sich die 1995 vom Bund gegründete Stiftung ‹Zukunft für Schweizer Fahrende› ein», erklärt Alfred Werro, Mitglied des Stiftungsrats. Es benötigt aber mit jedem Jahr mehr Plätze, da vor allem noch junge Menschen vermehrt reisefreudig sind. Man muss als Fahrender lernen, Materielles zurückzulassen, oder gar zu verzichten. Auf einen Standplatz sind sie jedoch angewiesen. Natürlich werden freie Flächen in den Agglomerationen bevorzugt, doch die Bedürfnisse der fahrenden Minderheit werden häufig kaum berücksichtigt oder gar ignoriert.
«Neben einem Mangel an Halteplätzen ist auch deren Verwaltung nicht unproblematisch», sagt Werro. «Hier ist nicht wie bei Sesshaften das Liegenschaftsamt, sondern die Polizei zuständig. Dies erweckt bei den Anwohnern oft den Eindruck, es liege etwas Kriminelles vor, dabei handelt es sich nur um das Standardprozedere nach der Ankunft auf dem Durchgangsplatz, was die Diskriminierung unnötig schürt.»
Aufklärungsarbeit notwendig
Solche Beispiele gäbe es noch viele zu berichten. Es besteht Aufklärungsbedarf. Daher setzt sich die 1985 ins Leben gerufene «Genossenschaft fahrendes Zigeuner-Kultur-Zentrum» nicht nur für die Rechte der Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz ein. Ihr Zweck ist auch, die Kultur des fahrenden Volkes zu erhalten und zu fördern sowie die Angehörigen in jeder Hinsicht zu unterstützen, damit ihre Lebensweise weiterhin gewährleistet ist. Dies beinhaltet in erster Linie, jedes Jahr von März bis September in der ganzen Schweiz Plätze zu mieten und es somit den Fahrenden nicht nur zu ermöglichen, ihrer Arbeit nachzugehen, sondern auch ihre Traditionen zu erhalten.
Ausserdem organisiert sie Ausstellungen, Musik- und Informationsveranstaltungen, um der Bevölkerung die Kultur der Fahrenden näherzubringen und so Vorurteile abzubauen. Ferner bieten sie für Schulklassen und andere interessierte Gruppen spezielle Besuchsnachmittage an, wo alle Fragen zur Geschichte und Kultur der Jenischen, Sinti und Roma und zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Sesshaften und Fahrenden beantwortet werden.
Jenischen, Sinti und Roma soll eine öffentliche Plattform für ihre Anliegen geboten werden, wo sie sich ohne Furcht zeigen können. Gleichzeitig sollen die Sesshaften auf niederschwellige Art und Weise den Fahrenden begegnen können. Die Vision dabei ist, dass tiefsitzende Vorurteile gegenüber den fahrenden Völkern abgelöst werden und durch eigene positive und differenzierte Erlebnisse mit ihnen ersetzt werden.
Einweihung Durchgangsplatz «Holchen»
bbu. Vom 4. bis 18. April werden sich Fahrende der «Genossenschaft fahrendes Zigeuner-Kultur-Zentrum» auf dem Durchgangsplatz «Holchen» in Wittinsburg aufhalten. Dieser wurde frisch saniert und stellt nun zehn Stellplätze mit bester Infrastruktur zur Verfügung (die «Volksstimme» berichtete).
Am kommenden Freitag, 8. April, findet im Auftrag des Kantons Baselland und zusammen mit Regierungsrat Isaac Reber und dem Gemeinderat von Wittinsburg die Einweihung des Platzes statt. Vom 8. bis 10. April finden dort gleichzeitig die «Zigeuner-Kultur-Tage» mit vielfältigen Veranstaltungen statt. Zusätzlich wird ein Markt organisiert. Dazu sind Vereine und Privatpersonen willkommen, einen eigenen Stand zu betreiben. Vom 4. bis 18. April können zudem Schulen, Kirchen, Vereine und andere interessierte Gruppen Führungen buchen oder einfach die Fahrenden besuchen.
Kontakt Markt:
Narzisse Birchler, 079 953 04 51, narzisse.birchler@zigeuner-kultur-zentrum.ch
Kontakt Führungen:
Alfred Werro, 077 443 97 04, alfred.werro@zigeuner-kultur-zentrum.ch