HERZBLUT
22.04.2022 GesellschaftLiebe mit einem Aber
Vielleicht erinnern Sie sich, dass ich in einer meiner vorangegangenen Kolumnen nicht sehr glücklich mit der Wahl meines Winterquartiers war. Spaniens zugebaute Küste, die riesigen Gewächshausfelder aus Plastik und die Massen an ...
Liebe mit einem Aber
Vielleicht erinnern Sie sich, dass ich in einer meiner vorangegangenen Kolumnen nicht sehr glücklich mit der Wahl meines Winterquartiers war. Spaniens zugebaute Küste, die riesigen Gewächshausfelder aus Plastik und die Massen an sonnenhungrigen Wohnmobilisten haben mich immer weiter nach Westen, und schliesslich über die Grenze getrieben. Portugal, das war Liebe auf den ersten Blick. Die Natur, das Licht, die Dörfer und Städte, alles verzauberte mich. Aber, und ein Aber gibt es immer, auch bei der grössten Liebe, mit den Portugiesen ist es nicht ganz einfach. Die Jungen sind offen und freundlich. Die ältere Generation ist eher ein verschlossenes Völkchen.
Wie ich es in jedem Land tue, trinke ich meinen Kaffee morgens in einer einheimischen Bar. In Alcoutim am Grenzfluss Guadiana war es ein Quiosque mit grosser Terrasse, wo man seinen Bica (Espresso) oder Galao (Milchkaffee) und sein Pastel de Nata (Puddingtörtchen) am Tresen bestellt. Erst nach dem vierten oder fünften Besuch gelang es mir, das abweisende Gesicht der älteren Besitzerin nicht mehr persönlich zu nehmen. In Portugal, das wusste ich mittlerweile, braucht es eine etwas dickere Haut.
Als Feld-, Wald- und Wiesenpsychologin würde ich sagen, es ist die bis 1974 andauernde Diktatur, welche die älteren Portugiesen geprägt hat. Jahrzehntelang mussten sie Gefängnis und Folter fürchten, wenn sie etwas Falsches sagten.
Unter diesem Gesichtspunkt hat wohl auch bei Dona Tina in Quarteira die Diktatur ihre Spuren hinterlassen. Nicht nur, weil die Frau mit ihrem faltigen Gesicht und den ondulierten Haaren sehr alt ist, sondern weil sie mich mit ihrem feindseligen Blick fast wieder zur Türe hinauskatapultiert hätte. Doch wenn ich Wolle zum Stricken brauche, schreckt mich nicht so schnell etwas ab. Ich betrat also mutig ihr winziges Geschäft. Der Raum war bis unter die dreieinhalb Meter hohe Decke mit Wolle vollgestopft.
Nach kurzem Fuchteln mit Händen und Füssen wusste sie, was ich wollte. Sie kam, auf einen Stock gestützt, hinter ihrem Tresen hervor und wuchtete mit einer Hand eine riesige Trittleiter heran. Was ich brauchte, war anscheinend ganz oben unter der Decke. Furchtlos erklomm die kleine Frau die Leiter. Als sich ihre Füsse auf meiner Augenhöhe befanden, lehnte sie sich auch noch weit nach vorne. Mir brach der Angstschweiss aus. Ich umklammerte die wacklige Leiter und sandte ein Stossgebet gen Himmel: Ich werde mich nie wieder über die Unhöflichkeit der Portugiesen beschweren. Ich schwöre!
Doch das hatte Dona Tina nicht nötig. Wenig später hielt sie mir einen Wollstrang zur Prüfung vor die Nase. Was soll ich sagen, falsche Farbe, furchtbares Material, aber ich kaufte den ganzen Packen. Auf keinen Fall wollte ich, dass die Portugiesin sich meinetwegen nochmals in Lebensgefahr begab. Sie nahm den unerwartet ergiebigen Verkauf ohne mit der Wimper zu zucken hin, packte ein und wünschte mich zum Laden hinaus. Wie gesagt, ich liebe Portugal.
Yvonne Zollinger ist ehemalige «Volksstimme»- Redaktorin und lebt in ihrem Wohnmobil.