«Von hier will ich nicht mehr weg»
17.02.2022 Baselbiet, Läufelfingen, Gesellschaft, Bezirk Sissach
Christian Horisberger
«Dietisberg Wohnen & Werken» hat seine Partner und Gönner kürzlich mit einem verspäteten Weihnachtsgeschenk überrascht. Im verheissungsvoll grossen, aber enttäuschend leichten Paket befand sich weder eine Speckseite oder ein ...
Christian Horisberger
«Dietisberg Wohnen & Werken» hat seine Partner und Gönner kürzlich mit einem verspäteten Weihnachtsgeschenk überrascht. Im verheissungsvoll grossen, aber enttäuschend leichten Paket befand sich weder eine Speckseite oder ein Käselaib aus eigener Produktion, noch etwas in den «Dietisberg»-Werkstätten Geschreinertes oder Geschweisstes. Sondern ein Kartonbecher mit Popcorn. Beigelegt das Umschlagblatt des «D-Magazins», der Hauszeitung des Wohn- und Werkheims, das Klärung bringt: Das «Magazin» besteht für einmal nicht aus Texten und Fotos, sondern weist auf einen Film hin, der das «tägliche Geschehen auf dem Berg» zeigt, zu finden auf www.dietisberg.ch/film. Reichlich Aufwand für einen Link, den man auch hätte per E-Mail versenden können. Aber die Neugier ist geweckt und das Popcorn passt ja bestens zu einem Film.
«Wir haben gesoffen wie die Löcher», sagt Knecht Rösi in der Eröffnungssequenz des Films unverblümt in die Kamera. Korber Sepp ebenso fadengerade: «Ich war im schlimmsten Knast der Schweiz.» Und Bäcker Dani: «Ich habe 25 Jahre lang Heroin konsumiert.» Wer auf dem Dietisberg lebt und arbeitet, hat im Leben mehr Schatten als Sonne gesehen: Drogen, Gewalt, psychische Erkrankungen und geistige Behinderungen, Überforderung und den freien Fall durch alle sozialen Netze.
Die Bewohner kreieren die Story
Diese drei Männer – typische «Dietisberg»-Klienten – sind neben Stefanie, der «Gemüsechefin» des Bergladens in Sissach, die Hauptdarsteller des Filmporträts. Die vier berichten auch ausführlich, wie sie ihren Tag bestreiten, was ihnen ihre Arbeit bedeutet oder wie sie sich auf dem «Dietisberg» fühlen. Mit ihrer Authentizität hauchen sie der Kurzdokumentation eine ganze Menge Leben ein.
«Nicht wir haben die Story kreiert, sondern die Protagonisten», sagt André Bürgin. Der Leiter der Basler Werbeagentur Rampenlicht war verantwortlich für die Produktion, entwickelte die Story und führte gemeinsam mit Tim Lüdin Regie. Der schelmische Rösi mit seiner Unverblümtheit und seinen träfen Sprüchen sei ein Glücksfall für die Produktion gewesen, sagt Bürgin. Auch während der Interview-Pausen seien die Kameras dauernd mitgelaufen und hätten so auch die spontanen Statements des Knechts eingefangen. «Die verwendeten wir dann als ‹Running Gags› und würzten sie mit einer Prise Selbstironie.» Als Beispiel dafür diese Szene: Rösi: «Wenn man was von ihnen im Büro drüben will, sind sie den ganzen Tag nicht dort.» – Schnitt auf ein leeres Büro, Grillenzirpen ist zu hören.
Bürgins Kreativagentur hatte das neue Logo des «Dietisbergs» kreiert, den Webauftritt modernisiert und sie produziert auch das halbjährlich erscheinende Magazin der Wohn- und Werkstätte für Männer. Voriges Jahr erteilte die Geschäftsleitung ihren Werbern einen weiteren Auftrag: «Macht einen Film über uns!» Vorgaben für die Inszenierung: keine.
Der 54-jährige «Rampenlicht»-Geschäftsführer lebt im nahen Eptingen, den «Dietisberg» kenne er in- und auswendig. «Für mich stand von Anfang an fest, dass ich keine fiktive Story erzählen, sondern die Klienten der Institution in den Mittelpunkt stellen will», sagt er. Vor dem Dreh wählte er aus sechs Kandidaten die vier Hauptdarsteller aus und bereitete sie mit einem umfassenden Fragebogen auf die teils sehr persönliche Fragen vor, die sie vor laufender Kamera beantworten sollten. Während sechs Drehtagen von Frühling bis Herbst 2021 produzierte das dreiköpfige Filmteam, bestehend aus Regisseur, Beleuchter und Kameramann, rund 60 Stunden Rohmaterial.
Informativ und unterhaltend
Die Fakten zur Institution und deren Philosophie steuern die Mitglieder der Geschäftsleitung bei: Florian und Adrian Thomet, die Söhne des legendären ehemaligen «Dietisberg»-Chefs Andreas «Res» Thomet, sowie Stefan Sutter. Mit raschen Bildschnitten und Szenenwechseln wird im Film eine Art Dialog zwischen der Betriebsleitung und den Klienten erzeugt, wobei sich das Augenzwinkern durch den ganzen Film zieht, ohne jemals platt zu wirken. Das macht den Imagefilm ebenso unterhaltsam wie informativ.
Mit knapp zwölf Minuten Laufzeit ist der Film fast doppelt so lang wie bei Firmenporträts üblich. Dennoch denkt man beim Betrachten keine Sekunde daran, das Youtube-Fenster wegzuklicken. Tempo, Informationsgehalt und Unterhaltungswert sind von der ersten bis zur letzten Sekunde hoch. Die Laufzeit des Streifens habe sich durch die guten Szenen der Protagonisten ergeben, erklärt André Bürgin: «Da ist kein Blabla und nichts Unnötiges drin.»
Neuland betreten
Wegen der Dauer, aber auch der gewählten Erzählform bezeichnet der Filmemacher den Streifen nicht mehr als Firmenporträt, sondern als «Dok». Deren Produktion sei für ihn nicht nur wegen der Arbeit mit den Hauptdarstellern kein typischer Auftrag gewesen, sagt er, auch habe er mit der journalistischen Herangehensweise Neuland betreten. Bürgins Mut, neue Wege zu gehen, hat sich gelohnt: Alle Reaktionen seien bisher positiv, sagt er – «ohne uns nun selbst beweihräuchern zu wollen».
Die Offenheit, die Markigkeit und der Stolz der Protagonisten auf die Arbeit, die sie auf dem «Dietisberg» leisten, unterstützt von einer emotionalen Bildsprache und Musik, sind berührend. Beinahe vergisst man als Zuschauer, wie tief manch ein Klient des Wohn- und Werkheims vor seinem Eintritt gefallen war. Von wie vielen Einrichtungen sie als untherapierbar weitergereicht wurden. Bis es als letzte Chance nur noch den «Dietisberg» gab.
Das Gesunde im Vordergrund
Doch passt das Film-Porträt eben genau deshalb zur Philosophie der Einrichtung: «Wir stellen nicht das Kranke der Männer in den Vordergrund, sondern das Gesunde», sagt Florian Thomet in einer Szene. «Seine» Männer würden durch ihre Arbeit, die von Wert sei, ein Stück Selbstbewusstsein und ihre Würde zurückgewinnen. Und manch einer finde hier eine Heimat fürs Leben. So ist dem 51-jährigen Knecht Rösi der letzte Satz des «Dietisberg»-Films vorbehalten: «Von hier möchte ich nicht mehr weg.»