«Ich bin nicht bereit, mich zu verbiegen»
13.01.2022 Baselbiet, Gesundheit, Politik
David Thommen
Frau Grazioli, Sie haben in einer «Carte blanche» in der «Volksstimme» vor einigen Wochen die Corona-Massnahmen kritisiert. Das war ein linker Tabubruch. Wie stark waren die Schockwellen?
Laura Grazioli: Wenn man beim ...
David Thommen
Frau Grazioli, Sie haben in einer «Carte blanche» in der «Volksstimme» vor einigen Wochen die Corona-Massnahmen kritisiert. Das war ein linker Tabubruch. Wie stark waren die Schockwellen?
Laura Grazioli: Wenn man beim Bild mit den Schockwellen bleiben will, kann man von einem mittelschweren bis schweren Erdbeben sprechen. Der Beitrag hatte eine extreme Resonanz im ganzen deutschsprachigen Raum. Ich habe Hunderte von Reaktionen bekommen: Briefe, E-Mails, Anrufe. Der allergrösste Teil der Reaktionen war positiv, sehr viele äusserten sich dankbar, dass endlich auch eine linksgrüne Politikerin die Massnahmen kritisiert. Ich habe mich bemüht, all diese Rückmeldungen zu beantworten. Daneben gab es in den Sozialen Medien einen richtiggehenden Sturm …
… wo persönliche Antworten wohl weniger möglich oder gefragt waren.
Das wurde mir bald zu viel, denn die Diskussionen dort sind mir zu «polar». Es gab so gut wie nur zwei Reaktionen: Entweder «du bist super cool» oder «du bist total unmöglich». Ich bin in der Zwischenzeit bei den Sozialen Medien ausgestiegen, zuletzt habe ich auch meinen Facebook-Account gelöscht. Diese Auseinandersetzungen sind nicht gewinnbringend. Was dort passiert, treibt vor allem die Spaltung der Gesellschaft weiter voran, und das möchte ich nicht befeuern. Ich habe bei den Corona-Massnahmen zwar eine dezidierte Meinung, suche aber dennoch das Konstruktive und nicht das Trennende.
Sie sagen, dass Sie dankbare Reaktionen auch aus dem links-grünen Lager erhalten haben. Wird man dort nicht vielmehr für massnahmenkritische Haltungen rasch geächtet?
Natürlich habe ich auch negative Reaktionen bekommen und Leute haben mir mitgeteilt, dass sie mich nie wieder wählen werden. Allerdings habe ich von nicht wenigen links-grün orientierten Menschen gehört, dass sie während der Covid-Krise ihre politische Heimat verloren haben, weil sie sich von der offiziellen Corona-Politik ihrer Parteien nicht mehr repräsentiert sehen. Das Unbehagen gegenüber den Massnahmen ist weit verbreitet.
Sie sprachen damals im Vorfeld der Abstimmung über das Covid-19-Gesetz von der «roten Linie», die mit den Massnahmen überschritten werde. Wo ist die «rote Linie»?
Das Ganze ist ein Prozess: Massnahmen, die man vor zwei Jahren mehrheitlich klar ablehnte, werden mittlerweile als angemessen oder sogar als scheinbar völlig richtig empfunden. Diese Werteverschiebung passierte schleichend – begründet durch höhere Fallzahlen, ausserordentliche Entwicklungen wie neue Virusvarianten und immer neue Panikszenarien. Die «rote Linie» wurde damit fast unmerklich immer weiter nach hinten verschoben. So ist heute der Ruf nach einer Impfpflicht für die gesamte Bevölkerung kein Tabu mehr. Für viele Menschen scheint es erschreckenderweise sogar überhaupt keine «rote Linie» mehr zu geben. Das muss uns als Gesellschaft Sorge bereiten, wie immer die Umstände auch sind.
Wo wurde Ihre persönliche «rote Linie» überschritten?
Mit der Einführung des Zertifikats.
Was ist so schlimm daran?
Die Massnahme, mit der die Teilhabe am öffentlichen Leben an den Gesundheits- beziehungsweise Impfstatus geknüpft wird, kann weder wissenschaftlich noch rechtlich nachvollziehbar begründet werden. Schon bei der Einführung des Zertifikats wusste man, dass die Impfung weder vor einer Ansteckung noch vor der Weitergabe des Virus schützt. Das Argument, dass die Geimpften quasi einen Freipass erhalten, um sich frei bewegen zu können, war damals schon obsolet. Dass sich andererseits ungeimpfte Gesunde freitesten mussten, um ihre Gesundheit zu beweisen, war in rechtlicher Hinsicht problematisch. Es ging hier wohl vor allem darum, die Menschen zu einer Impfung zu motivieren, um nicht zu sagen, zu nötigen. Dabei muss der Impfentscheid wie jeder andere medizinische Entscheid auf Freiwilligkeit basieren und darf nicht durch direkten oder indirekten Zwang herbeigeführt werden.
Auch dann nicht, wenn man als Nichtgeimpfter eine Gefahr für andere Menschen darstellt?
Es ist mittlerweile widerlegt, dass dem so ist: Geimpfte können das Virus genauso gut wie Ungeimpfte weitergeben. Aber die Begründung für das Zertifikat ist so oder so abenteuerlich: Müssen tatsächlich die Geimpften vor den Ungeimpften geschützt werden? Wo bleibt hier die Logik?
Mittlerweile weiss man eben, dass die Impfung weniger gut schützt, als man sich dies zu Beginn erhofft hatte.
Immerhin gesteht man dies heute ein. Erkrankungen und Übertragungen bleiben trotz Impfung möglich und der Schutz vor schweren Verläufen besteht im besten Fall nur während einer begrenzten Zeit. Im Moment geht man davon aus, dass der Booster während 10 bis 12 Wochen wirkt. Booster müsste also auf Booster folgen. Ist das wirklich die Zukunft? Für mich steht fest, dass diese Impfung, die keine sterile, gleichmässige Immunität erzeugt, die Pandemie nicht beenden wird.
Die Impfung mag nicht perfekt sein, aber Sie anerkennen, dass sie als Selbstschutz dient?
Absolut. Alle müssen diese Nutzen-Risiko-Abwägung für sich selber machen.
Für sich lehnen Sie diesen Selbstschutz aber ab?
Ich habe die Frage nach meinem Impfstatus bisher konsequent nicht beantwortet, da ich der Überzeugung bin, dass dies Privatsache ist. Mittlerweile anerkenne ich, dass es der Debatte vielleicht hilft, wenn man darüber spricht. Ja, ich habe mich gegen die Impfung entschieden. Im vergangenen Herbst bin ich dann tatsächlich an Covid-19 erkrankt, wie viele Geimpfte mittlerweile allerdings auch.
Wie war der Verlauf?
Es war nicht angenehm, ich lag während einiger Tage flach und litt während längerer Zeit an Geruchsverlust.
Keine Angst vor Long Covid?
Eine Covid-Erkrankung verläuft sehr individuell. Ich bin jung und gesund und habe statistisch gesehen durch Covid-19 nicht allzu viel zu befürchten. Ich hatte erwartungsgemäss auch keine grösseren Probleme. Was ich komplett falsch finde: Es gibt völlig unterschiedliche Risikoprofile innerhalb der Bevölkerung, was aber überhaupt nicht berücksichtigt wird. Quasi im Giesskannenprinzip gelten für alle Gruppen die gleichen Massnahmen. Nun auch noch für die Kinder, obwohl für diese von Corona so gut wie kein Risiko ausgeht.
Sie sagen, dass die Impfung nicht der Ausweg aus der Pandemie ist. Welchen Ausweg sehen Sie dann?
Das Virus muss endemisch werden. Dafür stehen die Chancen nun mit der vermutlich milderen Omikron-Variante gut. Natürliche Krankheitsverläufe spielen eine wesentliche Rolle, damit sich in der Bevölkerung eine natürliche Immunität entwickeln kann und das Virus dadurch an Gefährlichkeit verliert. Auf dem Weg dorthin müssen besonders gefährdete Gruppen geschützt werden – auch mit der Impfung, sofern die Betroffenen dies wollen.
Sie propagieren also eine mehrheitliche Durchseuchung der Bevölkerung?
Ist es nicht genau das, was im Moment mit den vielen Tausend Neuansteckungen täglich passiert? Und ich frage mich, ob das mit oder dank Omikron tatsächlich so verantwortungslos ist. Mit der nun milderen Variante darf man in diese Richtung denken, ohne dass man dafür gleich gesteinigt oder persönlich für Tausende von Toten verantwortlich gemacht wird … Wenn man sich die sehr hohen Fallzahlen der vergangenen Wochen anschaut, muss man sich eingestehen, dass ein Grossteil unserer Massnahmen nicht funktioniert hat. Zum gleichen Schluss muss man kommen, wenn man die verschiedenen Länder miteinander vergleicht: Ob die Durchimpfung hoch oder tief ist, ob sogar draussen Maskenpflicht besteht oder nicht, ob es Lockdowns gibt oder nicht: Es gibt im Ländervergleich keine signifikanten Unterschiede im Pandemieverlauf. Man muss davon ausgehen, dass alle Massnahmen viel weniger bringen, als man erhofft hat. Die Durchseuchung findet so oder so statt.
Der Landrat zieht für die heutige Sitzung aus dem Regierungsgebäude aus und tagt in einem grösseren Saal in Pratteln. Nicht zuletzt Ungeimpfte wie Sie werden dafür verantwortlich gemacht.
Das ist nicht nachvollziehbar und entbehrt jeglicher Faktenlage.
Aber im Landratssaal ist es tatsächlich sehr eng …
Es ist hinlänglich bewiesen, dass sich die Geimpften ebenfalls infizieren und das Virus übertragen können. Warum soll von den Ungeimpften eine grössere Gefahr ausgehen? Das ist unverständlich. Wichtig scheint mir zu sein, dass alle, die Symptome verspüren, daheim bleiben. Asymptomatische Personen spielen eine untergeordnete Rolle am Infektionsgeschehen, dazu gibt es zahlreiche Studien.
Geimpfte sollen eine geringere Virenlast haben und weniger lang ansteckend sein.
Nach allem, was ich weiss, stimmt das nicht. Aber mittlerweile könnte man auch anders argumentieren: Es gibt Studien, die nahelegen, dass Zweifachgeimpfte und insbesondere Geboosterte empfänglicher sind für neue Virusvarianten als Ungeimpfte oder Genesene. Falls sich diese Erkenntnis erhärtet, müsste man sich fragen, ob nicht die Geimpften eine Gefahr für die Ungeimpften sind.
In der «Basler Zeitung» war zu lesen, dass es der grünliberale Landrat Yves Krebs nicht als Grundrecht ansieht, «ungeimpft Politik betreiben zu dürfen». Er forderte die 2G-Regel im Parlament.
Eine der gefährlichen Entwicklungen im Verlauf dieser Pandemie ist, dass die Grundrechte relativiert und Grundrechtseinschränkungen normalisiert werden. Dabei sind Grundrechte von ihrem Charakter her unantastbar. Diese Forderung sagt viel über das Demokratieverständnis des Absenders aus.
Wie ist das im Landrat: Stehen Sie quasi als Exotin alleine da, oder finden Sie Mitstreiter?
Es gibt zum Glück Mitstreiterinnen und Mitstreiter, dazu auch einige stille Unterstützer, die sich am Schluss dann vielleicht doch nicht getrauen, den richtigen Knopf zu drücken (lacht). Für mich ist es ehrlich gesagt eine grosse Herausforderung, so stark gegen die Mehrheitsmeinung zu schwimmen. Von meinem Naturell her liegt mir das nicht, ich bin niemand, der gerne polarisiert. Gleichzeitig finde ich es wichtig, dass das nun gemacht wird. Ich sehe meine Rolle auch darin, vielen besorgten Menschen zu signalisieren, dass ihre massnahmenkritische Haltung auch im Parlament artikuliert wird. Meine Kantonalpartei akzeptiert das voll, sie verhält sich vorbildlich.
Fahren Sie mit Ihrem Engagement nicht Ihre verheissungsvoll gestartete Politik-Karriere an die Wand? Immerhin wurden Sie auch schon als künftige Regierungsratskandidatin gehandelt.
Es ehrt mich, dass man mir das zutraut. Ich muss einen solchen Schritt aber gegenüber meiner Familie und unserem Betrieb abwägen. Abgesehen davon bin ich nicht bereit, mich zu verbiegen, um Politik zu machen.
Es war zu hören, Laura Grazioli sei Anthroposophin und ihre Haltung daher typisch …
Ach … Es ist richtig, dass ich nach der Primar die Steinerschule besucht habe – vor dem Gymnasium und dem Studium. Es ist faszinierend, wie man mit einer abweichenden Meinung sofort schubladisiert und letztlich auch diffamiert wird. Meine Haltung hat nichts mit dem einstigen Besuch der Steinerschule zu tun, sondern damit, dass die rigorosen Massnahmen stark übertrieben sind. Anfänglich hatte man Covid-19 für deutlich tödlicher und gefährlicher gehalten, als es letztlich ist. Diese Erkenntnis hat nicht dazu geführt, dass man die übertriebenen Massnahmen zurückgefahren hat. Auf diese Diskrepanz weise ich hin.
Was ist Ihr Ausweg aus der Pandemie?
Ich meine, dass Omikron nun eine grosse Chance für einen Ausweg aus der Krise und hin zu einer endemischen Lage ist. Wenn man heute sieht, dass trotz hoher Ansteckungszahlen die Zahl der Hospitalisierten sinkt, ist die Zeit gekommen, um sich über den Ausstieg aus allen Massnahmen, die riesige Kollateralschäden verursachen, Gedanken zu machen. Die gefährdeten Gruppen sollen sich gezielt mit der Impfung, mit Hygienemassnahmen oder mit der Einschränkung von Kontakten schützen. Ausserdem braucht es nun endlich massive Investitionen ins Gesundheitswesen. Vom Fokus, die Menschen zur Impfung zu drängen, muss man wegkommen. Dafür müsste man sich mehr um die Behandlung von Erkrankten kümmern. Ich fand es nach meiner Ansteckung seltsam, wie mit mir umgegangen wurde. Ich bekam viele Anweisungen, wie ich mich zu verhalten habe und was ich nun alles nicht mehr darf. Doch es kam von offizieller Seite kein einziger medizinischer Ratschlag, was ich tun könnte, um die Symptome dieser Erkrankung lindern zu können.
Erkrankte sind also «ansteckende Fälle» und nicht Patienten?
Ja. Die Kommunikation während dieser Pandemie sorgt dafür, dass wir mittlerweile alle mehr Angst haben und einsamer und ungesunder sind als zuvor. Insbesondere Kinder und Jugendliche sind psychisch kranker, die viel zitierte Triage findet heute nicht auf den Intensivstationen der Spitäler statt, sondern in der Jugendpsychiatrie! Wir müssen dringend wieder weg von Angst und Panik – hin zu Verbindendem, zu Mutmachendem und Aufbauendem. Was das Immunsystem der Menschen am meisten schwächt, ist die Angst.
Zur Person
tho. Laura Grazioli (Grüne, Sissach) ist 36 Jahre alt, hat an der Hochschule St. Gallen internationale Beziehungen studiert und danach als Exportberaterin gearbeitet. Anschliessend hat sie eine landwirtschaftliche Zusatzausbildung gemacht und ist auf den elterlichen Betrieb auf dem Fluhberg in Sissach zurückgekehrt, den sie im Vorjahr zusammen mit ihrem Bruder übernommen hat. Hauptzweig ist der Obst- und Weinbau. Grazioli ist Mutter zweier Kinder im Alter von drei Jahren und fünf Monaten. Im Landrat ist sie seit 2019 und präsidiert dort die wichtige Finanzkommission.