AHNIG VO BOTANIK
14.01.2022 GesellschaftBlühend ins neue Jahr
Andres Klein
Auf einem Neujahrsspaziergang entdeckte ich auf einer schneebedeckten Kunstwiese unerwartet blühende Pflanzen, deren weisse Blüten sich kaum vom Untergrund abhoben. Beim genaueren Hinschauen entdeckte ...
Blühend ins neue Jahr
Andres Klein
Auf einem Neujahrsspaziergang entdeckte ich auf einer schneebedeckten Kunstwiese unerwartet blühende Pflanzen, deren weisse Blüten sich kaum vom Untergrund abhoben. Beim genaueren Hinschauen entdeckte ich sogar viele Früchte. Die Früchte hatten je zwei Samen. Die grünen Blätter waren wechselständig und die Nebenblätter fehlten. Die Blüten hatten vier Kelch- und vier Kronblätter und vier kurze und zwei lange Staubblätter. Somit war dieser Überlebenskünstler ein Mitglied der Familie der Kohlgewächse.
Mit etwas Fantasie sah die Frucht wie ein kleines Täschchen aus. Somit war klar: Es handelt sich um das Acker-Täschelkraut. Diese einjährige Pflanze blüht fast das ganze Jahr und produziert grosse Mengen von Samen. Pro Pflanze können das weit über tausend sein. Da sie so lange blüht, können auch fast immer Samen und Blüten an der Pflanze beobachtet werden, was die Bestimmung erleichtert.
Mit so vielen Samen kann sich diese Art auch sehr rasch verbreiten, wenn alle Bedingungen wie Bodeneigenschaften und Wetter stimmen. Wächst die Pflanze im Hühnerhof, so picken die Hühner die ölhaltigen Samen sehr gerne auf und es entstehen die Graseier, die einen grünlichen Rand um den Eidotter bilden.
Das Hirtentäschel, eine verwandte Art aus der Gruppe der Ackerbeikräuter, bildet spezielle Samen. Diese haben an der Oberfläche eine schaumstoffartige Schicht, die kleinste Bodenlebewesen wie Einzeller und Fadenwürmer anlocken und töten können. Anschliessend kann der Same Bestandteile wie Aminosäuren der Getöteten absorbieren. Die Forscher, die das entdeckt haben, bezeichnen das sogar als fleischfressende Samen.
Die Familie der Kohlgewächse, früher auch Kreuzblütler genannt, ist fast weltweit verbreitet. Zu ihr gehören viele Ruderal- und Alpenpflanzen sowie wichtige Nahrungspflanzen. Man denke nur an die Lieblingspflanze der modernen Hausfrau, welche man mit wenig Aufwand dem Apéro, der Vorspeise, dem Salat, allem Gemüse und sogar der Fertig-Pizza als kulinarisches Highlight beimischen kann. Der Schmalblättrige Doppelsame, genannt Rucola, gehört genauso zu dieser Familie wie Kohl, Wirz, Kabis, Brokkoli, Rettich, Senf und Raps.
Fast alle Mitglieder dieser Familie entwickeln einen starken Geruch, der senfartig ist. Auch der intensive Geschmack wird meist durch die Senföle und eine Kombination von Alkohol-Zuckern gebildet. Der intensive Geschmack und Geruch dürfte neben den Ölen der Grund sein, dass die Menschen in den gemässigten Zonen schon sehr früh begannen, sie als Nahrung zu nutzen und zu züchten. Aus Pflanzenfunden bei Pfahlbauten wissen wir, dass Kohlrabi, Rauke, Hirtentäschel und Leindotter zum Speisezettel gehörten.
Aus ökonomischer Sicht ist heute der Raps die wichtigste Pflanze aus dieser Familie. Raps ist mit einer Ernte von 70 000 Tonnen der zweitgrösste Pflanzenöllieferant weltweit. Anders als zu den Zeiten der Pfahlbauer steht nicht die Nahrung, sondern der Rohstoff für die chemische Industrie und der Energieinhalt im Zentrum des Interesses.
Andres Klein ist Biologe. Er lebt in Gelterkinden.