«Eine der letzten Integrationschancen»
14.01.2022 Baselbiet, Niederdorf, Gesellschaft, Bezirk WaldenburgAndré Frauchiger
Herr Castelli, 50 Jahre Arxhof. Was bedeutet das für Sie?
Francesco Castelli: Ich bin jetzt eineinhalb Jahre hier und ich kann Ihnen sagen: Ich bin wirklich stolz, dass ich einen Betrieb mitgestalten und leiten darf, in dem bereits ...
André Frauchiger
Herr Castelli, 50 Jahre Arxhof. Was bedeutet das für Sie?
Francesco Castelli: Ich bin jetzt eineinhalb Jahre hier und ich kann Ihnen sagen: Ich bin wirklich stolz, dass ich einen Betrieb mitgestalten und leiten darf, in dem bereits sehr viel erreicht wurde. Ein grosser Dank gilt der Politik, der Verwaltung und der Bevölkerung. Wir verspüren auf allen diesen Ebenen einen grossen Support. 50 Jahre alt zu sein, ist auch eine Verpflichtung, dass die Erfolgsgeschichte mindestens nochmals so lange weiterentwickelt wird. Die 50-Jahre-Festaktivitäten mussten wegen Corona leider verschoben werden. Sie werden aber nachgeholt.
Wie hat sich der Arxhof entwickelt – und vor allem: Wie soll er sich in Zukunft weiterentwickeln?
Wir blicken auf eine bewegte Geschichte zurück. Im Jahr 1971, zum Zeitpunkt der Gründung des Arxhofs, war der Strafvollzug in der Schweiz noch strafend und wegsperrend. Der Arxhof startete hingegen als pionierhafte Arbeitserziehungsanstalt mit einem revolutionären gruppentherapeutischen Ansatz und ist heute ein modernes Massnahmenzentrum für Jugendliche und junge Erwachsene mit einem risikoorientierten Behandlungsfokus. Vor zwei Jahren haben wir eine geschlossene Eintrittsabteilung eröffnet. Dort beginnen fast alle Eingewiesenen. Sie gewöhnen sich dort an das System Arxhof, an die Therapien, die Arbeit und an die Tagesabläufe.
Die Abteilung wurde jedoch bereits vor Ihrem Amtsantritt geschaffen.
Das ist richtig. Im Jahr 2016 wurde bei den zuweisenden Behörden eine systematische Befragung über die Bedürfnislage durchgeführt. Klar wurde dabei, dass eine geschlossene Eintrittsabteilung gewünscht wird. Damit wir uns aber richtig verstehen: Unsere geschlossene Eintrittsabteilung ist weit weg von einem geschlossenen Gefängnis. Im Vergleich zu unseren offenen Pavillons ist hier die Bewegungsfreiheit der Eingewiesenen aber deutlich eingeschränkter. Diese Neuerung war aus heutiger Sicht goldrichtig. Rund 70 Prozent der Eintretenden kommen heute zuerst in die geschlossene Eintrittsabteilung, die vergangenes Jahr zu 90 Prozent belegt war. Zum Blick nach vorne: Jetzt geht es ums Konsolidieren und Stabilisieren der Veränderungen der vergangenen Jahre. Es braucht dabei den laufenden, systematischen Dialog mit den zuweisenden Behörden, um rasch deren aktuelle Bedürfnisse zu erfahren und wenn möglich zu berücksichtigen. Es stellt sich immer die Frage, wie wir uns weiterentwickeln können.
Wer wird im Arxhof aufgenommen?
Strafrechtlich verurteilte Jugendliche oder junge Erwachsene zwischen 17 und 25 Jahren kommen zu uns. Die zuständigen Strafvollzugsgremien aus dem Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht bestimmen die Einweisung. Zu uns kommen die Jugendlichen erst, wenn alles andere nicht funktioniert hat. Die Aufnahme in einem Massnahmenzentrum ist für sie eine der letzten Integrationschancen. Damit ist klar, dass wir anspruchsvolle Fälle haben. Wir nehmen präzise Risikoabklärungen vor. Gefährliche Personen kommen nicht zu uns. Diese brauchen gefängnisähnlich gesicherte Abteilungen. Bei uns werden nach wenigen Monaten in der geschlossenen Eintrittsabteilung in den vergleichsweise offenen Pavillons erste Reintegrationsschritte geübt. Dies im Rahmen einer fix vorgegebenen Tages- und Wochenstruktur mit vielen Einschränkungen. Und: Die Eingewiesenen können das Gelände nicht einfach verlassen, wenn es ihnen beliebt. Freiheit wird hier im Rahmen unseres vorgegebenen Resozialisierungsauftrags unter klaren Bedingungen trainiert.
Wie sieht es mit der Rückfallquote nach einer Entlassung aus?
Die Rückfallquote bei Jugendlichen, die direkt aus Gefängnissen entlassen werden, beträgt rund 80 Prozent. Eine interne Studie hat vor zehn Jahren für den Arxhof eine deutlich geringere Rückfallquote ausgewiesen. Und die Rückfälle waren in den meisten Fällen weniger schwer. Vor diesem Hintergrund lohnt sich unsere Integrationsarbeit in jedem Fall. Die Resozialisierung, das Üben für die Integration in die Gesellschaft und in den Arbeitsprozess ist absolut zentral bei unserer Arbeit. Was investiert wird, lohnt sich hundertfach, davon bin ich überzeugt. Dauernde Sozialhilfe, immer wieder Gefängnisaufenthalte nach einer Straftat – dies alles ist vergleichsweise viel teurer als der Aufenthalt bei uns. Das gibt uns die Motivation für die oft schwierige Arbeit mit den jungen Männern.
Es herrscht verbreitet die Meinung, dass es auf dem Arxhof viele Drogenabhängige gebe. Stimmt das?
Ich kann nur für die Zeit reden, seitdem ich hier bin. Ich kann klar sagen: Wir haben keine Schwerstsüchtigen hier oben.
Lassen sich die Eingewiesenen typisieren?
Das durchschnittliche Alter ist leicht über 20 Jahre. Es sind junge Männer mit einer schwierigen Vorgeschichte wie Gewalterfahrungen, mit psychischen Belastungen und Straftaten. Sie bringen einen schweren Rucksack an Vorgeschichten mit. Es kommen junge Männer aus verschiedensten sozialen Schichten zu uns. Sie haben aber alle eines gemeinsam: Es handelt sich immer um sehr komplexe Verhältnisse.
Wie lange leben die Eingewiesenen normalerweise auf dem Arxhof?
Sie bleiben vier Jahre bei uns. Das ist aus ihrer Sicht oft eine lange Zeit. Aber sie können in dieser Zeit auch eine Ausbildung mit Lehrabschluss machen. Am Schluss haben die jungen Männer eine Ausbildung – und vor allem das Leben mit einer Perspektive vor sich.
Wie sieht der Alltag eines Eingewiesenen aus?
Der klassische Alltag im offenen Bereich lässt sich wie folgt beschreiben: Arbeitsbeginn 7.20 Uhr, bis Mittag um 12 Uhr wird gearbeitet. Dann gibt es eine Stunde Mittagszeit. Von 13 bis 16 Uhr wieder Arbeit. Von 16 bis 17 Uhr ist dann beispielsweise Zeit für die Sozialkompetenzgruppe, in der unter anderem gezielt die Konfliktfähigkeit trainiert wird. Danach gibt es in den Wohngruppen verschiedene «Ämtli» zu verrichten. Dazu gehört auch das Putzen. Und am Abend muss selber gekocht werden. Zudem sind Hausaufgaben zu erledigen. Von 20.30 bis 22.00 Uhr ist Freizeit – beschränkt auf das Gelände des Arxhofs und begleitet durch die Sozialpädagogik. Es gibt zum Beispiel ein Sportangebot. Um 23 Uhr müssen alle in ihren Zimmern sein und um Mitternacht ist Nachtruhe. Es gibt für alle Eingewiesenen auch Einzel- und Gruppentherapien, die im Tagesablauf eingeplant werden.
Die Eingewiesenen können für die Lehre unter sieben handwerklichen Berufen auswählen, nicht mehr. Was ist der Grund für diese Beschränkung?
Wir wollen ihnen einen Lehrabschluss ermöglichen. Im heutigen Schweizer Ausbildungssystem gibt es nach einer ersten Berufsausbildung viele Passerellen-Angebote für eine Weiterbildung, das eröffnet zusätzliche Möglichkeiten. Die aktuelle Jubiläumsbroschüre mit 50 Geschichten von früheren Arxhof-Eingewiesenen beweist, dass viele junge Männer ihren beruflichen Weg finden.
Können die Mitarbeitenden Vorbilder sein?
Die Mitarbeitenden haben eine zentrale Bedeutung als Vorbilder. Das soziale Verhalten der Jungen wird in den Gruppen gelernt. Es werden gezielt Konfliktlösungen trainiert, auch der Verzicht auf Gewalt. Die Eingewiesenen müssen lernen, ihre Probleme in den Griff zu bekommen. Die heutigen Strukturen im Arxhof sind sehr sinnvoll und haben sich bewährt. Ich bin dankbar dafür, dass die Gesellschaft eine Institution wie den Arxhof trägt. Und Verständnis dafür hat, dass Eingewiesene auch manchmal die Flucht ergreifen. Flucht bedeutet bei uns, dass jemand unerlaubt das Gelände verlässt. Er wird dann sofort zur Fahndung ausgeschrieben. Eine Flucht dauert in der Regel ein paar wenige Tage. Nachdem die Flüchtenden gefasst sind, kommen sie ins Untersuchungsgefängnis. Dann wird eine allfällige Rückkehr vorbereitet.
Arbeiten mehrheitlich jüngere Mitarbeitende auf dem Arxhof?
Nein. Wir haben eine durchmischte Gruppe von Mitarbeitenden, die sich gut ergänzen. Gerade Frauen, die in einer Vorgesetzten-Position sind, tun den eingewiesenen Männern gut. Denn diese müssen den respektvollen Umgang mit Frauen lernen, das ist sehr wichtig.
Wie setzt sich die Mitarbeitenden-Struktur zusammen?
Der Arxhof weist 60 Vollzeitstellen auf, verteilt auf rund 100 Beschäftigte. Die Sozialpädagogik, der psychologischforensische Dienst und die Ausbildungsbetriebe arbeiten Hand in Hand, um die Resozialisierungsziele mit den jungen Männern möglichst effizient zu erreichen.
Welche persönlichen Ziele verfolgen Sie mit dem Arxhof?
Mein Ziel ist, weiterhin mit meinem Team die Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Betrieb schaffen zu können. Ich möchte, dass der Arxhof auch in zehn Jahren noch ein gutes und gefragtes Angebot anbietet – für die Eingewiesenen, die zuweisenden Behörden und auch für die Mitarbeitenden. Und ich hoffe auf die weitere Unterstützung durch die Politik und die Bevölkerung. Ich bin offen für den Dialog. Wer sich für den Arxhof interessiert und nähere Informationen möchte, kann sich bei mir melden.
Zur Person
fra. Francesco Castelli ist 43 Jahre alt. Er ist verheiratet und Vater dreier Kinder. Er studierte Sozialarbeit und Sozialpolitik an der Universität Fribourg. Nach dem Studienabschluss arbeitete er zuerst an der Fachhochschule Nordwestschweiz, später bei den Sozialen Diensten der Stadt Zürich und bis zu seinem Amtsantritt als Direktor des Arxhofs im August 2020 während zehn Jahren als Geschäftsleiter der Stiftung Sucht in Basel. Sein grosses Hobby ist die Ornithologie und damit der Gang in die unberührte Natur, wo er den Ausgleich zum Berufsalltag findet. Aber auch Joggen und Biken gehören zum Programm. Im Zentrum steht in der Freizeit aber die Familie. Er habe den Arxhof als möglichen Arbeitsort «immer auf dem Radar» gehabt, betont Francesco Castelli. Die «spannende, sinnvolle Arbeit» habe ihn gereizt. Und es sei ein «Privileg, hier ein so gut ausgestattetes ‹Integrationsprogramm› leiten zu können». Jungen Männern, die auf Abwege gekommen sind, eine zweite Chance zur Integration zu geben, sei «sehr sinnstiftend». Die Mitarbeitenden seien sehr motiviert und leisteten eine intensive und anspruchsvolle Arbeit. Die Männer seien nicht freiwillig da und müssten zuerst motiviert werden, im vierjährigen Programm mitzumachen. Aber man könne hier auch wirklich etwas bewegen, unterstreicht der Arxhof-Direktor abschliessend.
Der Arxhof in Kürze
vs. Das Massnahmenzentrum für junge Erwachsene Arxhof (MZJE Arxhof) stellt sich im Klappentext zur Jubiläumsbroschüre «Fünfzig Geschichten für 50 Jahre Arxhof» gleich selber in aller Kürze vor: «Das Massnahmenzentrum für junge Erwachsene Arxhof ist eine Institution des Nordwest- und Innerschweizer Strafvollzugskonkordates und bietet Platz für 46 straffällige junge Männer zwischen 17 und 25 Jahren. Es vermittelt den jungen Menschen durch sozialpädagogische und therapeutische Massnahmen sowie berufliche Ausbildung die Fähigkeit zur Selbstverantwortung, zur Mitverantwortung für andere und zu einer deliktfreien Lebensführung. Das MZJE Arxhof arbeitet mit delikt- und risikoorientierten Psychotherapiekonzepten und einem sozialtherapeutischen Milieu. Alle Eingewiesenen durchlaufen eine Ausbildung in den Berufen Berufsfachmann Unterhalt, Forstwart, Koch, Landschaftsgärtner, Maler, Metallbau und Schreiner. Der Arxhof verfügt über eine geschlossene Eintrittsabteilung, drei offene Wohngruppen sowie eine Aussenwohngruppe.»