«Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält, oder eine Reihe von Geschichten, die mit Namen und Daten zu belegen sind, so dass an ihrer Wirklichkeit, scheint es, nicht zu zweifeln ist. Trotzdem ist jede Geschichte, meine ich, eine Erfindung.» Diese Worte schrieb Max Frisch in seinem Roman «Mein Name sei Gantenbein».

Während meiner Praxistätigkeit waren mir seine Gedanken eine grosse Hilfe, um die Vielseitigkeit der Menschen zu begreifen. Wie viele Überzeugungen, unverrückbare Standpunkte, feste Glauben, die mir an einem einzigen Tag begegnen konnten, wurden durch diese Sätze relativiert, erklärt und gemildert.

Interessant ist jedoch, dass die moderne Hirnforschung dies in ihren Untersuchungen bestätigt. Unser Gedächtnis speichert Erlebtes auf verschiedene Art. Wie intensiv war das Ereignis, mit welchen Emotionen war es verbunden, wie wichtig hat es zum Ereigniszeitpunkt ausgesehen, was waren die äusseren und inneren Zustände?

Eine Erinnerung wird nicht als Ganzes gespeichert, sondern aufgeteilt, je nachdem, womit das Ereignis verbunden war. So wird eine Erinnerung, die mit Angst oder Wut verbunden war, später eher wiedergefunden, wenn gerade Angst oder Wut aufkommen, denn das Gehirn sucht nach der grössten Übereinstimmung mit einem ähnlichen Zustand in der Vergangenheit. Dabei werden äussere Faktoren (Wetter, Jahreszeit, Ort, Lautstärke, optische Eindrücke) und innere Abläufe (Salzhaushalt, Hormone, Herzschlag und Atemfrequenz, Gemütszustand) gesucht, die damals herrschten und zum jetzigen Zustand passen. Blitzschnell liefert das Gehirn eine Lösung. Je eingeübter dieser Ablauf, desto genauer ist das Resultat. Erlerntes kommt auf diese Weise rascher zum Zuge.

Die Wiederholung war für dessen Entstehen das wichtigste Element. Wenn wir uns aktiv an etwas erinnern wollen, suchen wir zusammen, was zu dem passt, was wir rekonstruieren möchten. Es muss dann für uns und den Zuhörer sinnvoll sein. Wie genau die Inhalte sind, steht auf einem anderen Blatt.

Und genau in diesem Moment entstehen neue Geschichten, von denen wir am Schluss überzeugt sind, dass sie stimmen. Lassen Sie sich doch an einem Klassentreffen von anderen Personen ein Ereignis schildern, von dem Sie überzeugt sind, noch genau zu wissen, wie es ablief. Sie werden staunen. Je mehr wir die Geschichte wiederholen (ohne dass uns jemand korrigiert oder widerspricht), desto mehr sind wir von der Wahrheit überzeugt. Oder denken Sie nur an den Geschichtsunterricht, der je nach Land verschieden vermittelt wird. Wir Schweizer haben unseren Stolz auf die Freiheit und Demokratie gelernt, der Rütlischwur als Sinnbild unserer Identität. Gerade derzeit ist dieses Gelernte wieder sichtbar geworden. So zeigt sich besonders in der geschichtsträchtigen «Urschweiz» vermehrt dieser Freiheitsglaube in Form von mehr Impfverweigerern und den «Freiheitstrychlern». Auch hier werden auf beiden Seiten fleissig Daten und Fakten gesammelt, damit an der Wirklichkeit ihrer Erfindung nicht mehr zu zweifeln ist.

In den Kriminalwissenschaften befasst man sich mit Geständnissen, bei denen die heutigen DNA-Analysen einen Widerspruch beweisen. Man weiss, dass Zeugenaussagen durch die Befragungstechnik und die Hartnäckigkeit bis zur Urteilsfindung beeinflusst werden. Je länger wir die Erinnerung herausfordern, desto mehr wird diese plausibel geformt oder eben dazu erfunden, bei einem Geständnis sogar zum Nachteil seiner selbst.

Umgekehrt ist es auch tröstlich: Wir sind in der Erinnerung nicht fest an Tatsachen gebunden, wir können unser Leben auch später für uns selbst und vor anderen noch umgestalten. Negatives blenden wir gerne aus oder verschönern es, und nicht selten werden Heldentaten geboren. Und am Schluss stirbt mit uns auch diese Erfindung.
Max Handschin

Geschichten, die das Leben schrieb

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