MEINE WELT
29.10.2021 GesellschaftSüsses oder Saures
Die Nächte werden schnell kühler und länger – und die Winterzeit steht vor der Tür. Falls es übermorgen Abend draussen vor unserer Haustüre zu einem «Gloggezüügli» kommt, weiss ich jeweils nicht ...
Süsses oder Saures
Die Nächte werden schnell kühler und länger – und die Winterzeit steht vor der Tür. Falls es übermorgen Abend draussen vor unserer Haustüre zu einem «Gloggezüügli» kommt, weiss ich jeweils nicht so recht, ob ich mich freuen oder ärgern soll. Auch bei uns bürgert sich dieser Brauch aus den USA, dass am Abend des 31. Oktobers Kinder von Haus zu Haus ziehen, um Süssigkeiten zu erbetteln, immer mehr ein. Da stehen dann zwei, drei oder eine «Tschubblete» Kinder mit frechem oder doch eher verlegenem Grinsen vor unserer Türe und rufen: «Süsses oder Saures!» Sie sind oft mehr schlecht als recht verkleidet, als Feen, Hexen, Fledermäuse, Geister oder Kürbisse. Ihr Ruf erinnert mich zunächst unwillkürlich an die feine Sauce beim Verzehr einer chinesischen Ente.
Fein raus, wer keine Ente, aber Süssigkeiten oder mindestens eine «Gugge» Chips parat hat, um die Jungmannschaft aus dem Quartier zufriedenzustellen. Sonst riskiert man, dass sie einem einen spätabendlichen Streich spielt. «Trick or treat» wird in den USA gerufen: «Streich oder Leckerbissen!».
«Halloween» ist eine seltsame Mischung aus Herbst-, Heisch- und Verkleidungsbrauch, vergleichbar mit Bräuchen wie Martinisingen, Räbeliechtli-Umzug, Sternsingen oder dem fasnächtlichem Morgenstreich. Ob sich der Brauch aus dem Christentum – Hinführung zu Allerheiligen und dem Totengedenkmonat November – herleitet, oder aus viel älteren keltischen Bräuchen, das ist unklar und in der Volkskunde umstritten. Jedenfalls leitet sich die Verballhornung «Halloween» aus dem amerikanischen «All Hallows’ Eve» ab, dem «Abend vor Allerheiligen».
Ich mag Kinder. Persönlich schätze ich zwei Monate später am Dreikönigstag die sternsingenden Kinder an der Haustüre – diese drohen und betteln nicht, sondern singen uns schöne Weihnachtslieder. Sie sammeln nicht Schleckzeug für den eigenen Genuss, sondern einen Batzen für einen guten Zweck und Benachteiligte.
Fratzen und «Süsses oder Saures» passen irgendwie auch zu den beiden Jahren, die hinter uns liegen. Das Virus hat uns allen einen bösen, folgenreichen Streich gespielt. Wegen ihm mussten wir als Gesellschaft und oft auch Einzelne in einen echt sauren Apfel beissen, den keiner von uns je freiwillig zur Hand genommen hätte. Manche angsteinflössenden Fratzen, saure Mienen und bitteren Worte sind – geboren aus Enttäuschung, Sorge und Empörung – ans Licht gekommen. Höchste Zeit, dass auch dieser ganze Spuk bald Vergangenheit ist.
Matthias Plattner (57) ist Pfarrer der Reformierten Kirchgemeinde Sissach-Böckten-Diepflingen-Itingen-Thürnen.