Das Zuger Attentat – Protokoll aus dem Landrat
24.09.2021 Baselbiet, Bezirk LiestalDas Baselbieter Parlament tagte, als die Schreckensmeldung eintraf
20 Jahre sind seit dem Amoklauf im Zuger Kantonsrat vergangen. Die Tat führte im Baselbieter Landrat, der damals zeitgleich eine Sitzung abhielt, zu Bestürzung und mulmigen Gefühlen. Ein Blick ins offizielle ...
Das Baselbieter Parlament tagte, als die Schreckensmeldung eintraf
20 Jahre sind seit dem Amoklauf im Zuger Kantonsrat vergangen. Die Tat führte im Baselbieter Landrat, der damals zeitgleich eine Sitzung abhielt, zu Bestürzung und mulmigen Gefühlen. Ein Blick ins offizielle Protokoll.
David Thommen
Am Morgen des 27. September 2001 drang der 57-jährige Attentäter Friedrich Leibacher, verkleidet als Polizist, in das Zuger Kantonsparlament ein, tötete 14 Politikerinnen und Politiker und verletzte Dutzende Personen. Insgesamt gab der Amokläufer 91 Schüsse ab und richtete sich mit dem letzten selbst. Leibacher, bei dem Jahre zuvor Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert worden waren, war zuvor als notorischer Querulant im Umgang mit den Behörden aufgefallen.
Gleichzeitig mit dem Zuger tagte auch das Baselbieter Kantonsparlament, der Landrat. Als die ersten vagen Schreckensnachrichten aus Zug – damals noch telefonisch – in Liestal eintrafen, war es späterer Vormittag und der Autor dieser einleitenden Zeilen sass damals als Berichterstatter für eine andere Zeitung auf der Pressetribüne. Grosse Beklommenund Unsicherheit machten sich sofort im ganzen Gebäude breit. Hatten es Terroristen nach den Anschlägen von 9 / 11 in New York nun auf Kantonsparlamente in der Schweiz abgesehen? Sind alle Anwesendenden in akuter Lebensgefahr? Stürmen bald Bewaffnete herein, explodieren Bomben?
Hier Auszüge aus dem gewohnt nüchternen offiziellen Landratsprotokoll vom 27. September 2001, späterer Morgen:
Ernst Thöni (FDP, Pratteln) verliest, nachdem unter den Regierungsmitgliedern im Saal Unruhe ausgebrochen ist, folgende Polizeimeldung: «Im Zuger Kantonsrat ist es am Donnerstagmorgen zu einem Amoklauf gekommen. Dabei wurden zahlreiche Personen verletzt. Ob es auch Todes opfer gab, steht noch nicht fest. Über den Hergang herrscht keine Klarheit. Der Amoklauf ereignete sich um 10.30 Uhr. Laut einem Zeugen wurden im Kantonsratssaal mehrere Schüsse abgegeben. Es kam auch zu Detonationen, möglicherweise von Handgranaten.»
Der Landratspräsident gibt bekannt, dass der Polizeidirektor, Andreas Koellreuter, für den Landrat Polizeischutz angeordnet und die Tribüne gesperrt hat, da noch nicht mit Sicherheit klar ist, ob es sich um eine Einzelaktion oder um eine konzertierte Aktion handelt.
Polizei vor Ort
Etwas später ergriff der Landratspräsident erneut das Wort. Im Saal war die Unruhe nicht kleiner geworden, viele Plätze, auch auf der Regierungsbank, waren mittlerweile verwaist. Im Regierungsgebäude und davor waren einige Polizisten zu sehen. Weiter im Protokoll:
Ernst Thöni unterbricht die Beratung und informiert über die getroffenen Sofortmassnahmen im Regierungsgebäude nach dem Amoklauf in Zug: Nur noch der Haupteingang des Regierungsgebäudes ist offen. Am Haupteingang findet eine Personenkontrolle statt. Zur Identitätsfeststellung steht Martin Brack von der Landeskanzlei der Polizei bei. Für die folgenden Landratssitzungen wird die Justiz-und Polizeidirektion ein Sicherheitskonzept ausarbeiten.
In der Mittagspause hatten wir von der Zeitung beschlossen, dass wir für die Nachmittagssitzung keine Journalisten mehr in den Landrat delegieren werden. Die Unsicherheit darüber, was noch passieren könnte, war zu gross. Zudem wurden auf der Redaktion alle Kräfte für die Berichterstattung über das Attentat in Zug gebraucht. Die Parlamentsleitung kam über Mittag dann zum Schluss, dass die Landratssitzung abgebrochen werden soll. Protokollauszug vom frühen Nachmittag:
Der Landratspräsident Ernst Thöni berichtet, sichtlich mitgenommen und mit sehr bewegter Stimme, von dem schrecklichen Ereignis im Zuger Kantonsrat anlässlich der vormittäglichen Parlamentssitzung. Noch wisse man nicht im Detail, was genau geschehen sei. Aufgrund der letzten Meldungen seien vierzehn Tote zu beklagen und es gebe neun Schwerstverletzte, von denen acht Menschen noch ums Überleben kämpfen. Das Mitgefühl des gesamten Baselbieter Parlaments, der Regierung und Verwaltung gehöre den Zuger Kolleginnen und Kollegen, den Regierungsmitgliedern, ihren Angehörigen sowie sämtlichen Parteien.
Es sei unfassbar, wie sich das Leben innert kürzester Zeit verändern könne, meint Ernst Thöni. Vor zwei Wochen habe man mitgelitten bei den Terroranschlägen in den USA. Hätte damals aber wirklich jemand damit gerechnet, dass in unserem Land, in allernächster Nähe, so etwas Schreckliches geschehen könnte?
Dieser heutige Anschlag führe drastisch vor Augen, dass man zu jeder Zeit und überall gefährdet sei, sei dies als Bürgerin oder Bürger, aber auch als Politikerin und Politiker. Es gebe keine absolute Sicherheit, weder vor psychisch gestörten Einzeltätern noch vor Terroristen. Hier das Augenmass nicht zu verlieren, sei Aufgabe der Volksvertreterinnen und Volksvertreter. Die Bevölkerung habe das Anrecht, den Verhandlungen des Landrates beiwohnen zu dürfen. Parlament und Regierung wollen nicht hinter Panzerglas und unter Ausschluss der Öffentlichkeit die Interessen der Bevölkerung vertreten. Die schreckliche Tat in Zug mache deutlich, dass damit Risiken verbunden seien. Deshalb brauche es Mut und Beharrungsvermögen und es gelte, keine Angst zu zeigen. Im Namen aller Anwesenden bedankt sich Ernst Thöni bei der Baselbieter Polizei, welche umgehend vor Ort war, um die notwendigen Massnahmen einzuleiten. Gemeinsam mit der Regierung werde man die verhältnismässigen Sicherheitsdispositive einer Prüfung unterziehen.
Der Ratspräsident bittet alle Anwesenden, sich mit ihm für eine Schweigeminute im Gedenken an die Opfer von Zug zu erheben. Im Anschluss an die Schweigeminute bedankt er sich und gibt bekannt, dass anlässlich der Bürositzung der Beschluss gefasst wurde, in Anbetracht der bestürzenden Ereignisse die Sitzung abzubrechen. Er wünscht allen eine gute Heimkehr.
Die Trauerfeier
Auszug aus dem Protokoll der nachfolgenden Landratssitzung vom 25. Oktober 2001. Wiederum hatte Landratspräsident Thöni gleich zu Beginn der Sitzung unter «Mitteilungen» das Wort ergriffen:
Sie wissen alle, dass wir die letzte Landratssitzung am 27. September nach dem schrecklichen Überfall auf den Kantonsrat in Zug abgebrochen haben, nachdem bekannt geworden war, was für ein grauenhaftes Ausmass dieses Blutbad angenommen hat.
Am Montag, 1. Oktober, haben der Regierungspräsident Peter Schmid, die Weibelin Frau Diana Boner und ich den Kanton Basel-Landschaft an der Trauerfeier vertreten. Es ist mir ein Anliegen, bevor wir zur Tagesordnung übergehen, Ihnen unsere Eindrücke von dieser Trauerfeier in Zug weiter zu geben. Was wir dabei erlebt und gefühlt haben, konnten Sie in der Berichterstattung, am Bildschirm oder im Radio nicht nachvollziehen.
Beim Eintreffen in Zug, dem Aufstieg zur Kirche und noch extremer nach der sehr ergreifenden Trauerfeier, beim Verlassen der Kirche, beim Hinuntersteigen in die Stadt, zwischen den vielen Kränzen, und beim Vorbeigehen an den Tausenden trauernder Mitmenschen hinter den von Umzügen her bekannten Gittern, herrschte eine absolute Stille.
Kein Wort, absolut kein Geräusch war zu hören, ausser unseren eigenen Schritten. Diese, im echten Sinne des Wortes, Totenstille werden wir drei nie vergessen. Wenn ich daran zurückdenke, erinnert es mich immer wieder an den Sinn solcher Teilnahmen, nämlich an die Nähe zu den Hinterbliebenen und an das ehrende Andenken an die Verstorbenen, das damit beim letzten Geleit zum Ausdruck gebracht werden will.
Nun ist es meine Pflicht, Sie über die bei uns im Landratssaal getroffenen Massnahmen zu orientieren. Die Justizdirektion liess folgendes Schreiben übermitteln: «Nach der Bluttat vom 27. September in Zug wurde als Sofortmassnahme beschlossen, bei Landratssitzungen eine Eingangskontrolle durchzuführen. Die Polizei Basel-Landschaft hat den Auftrag erhalten, für die Sicherheit der Landräte und Landrätinnen im Landratssaal zu sorgen. Freien Zugang in den Landratssaal haben die Parlamentarierinnen und Parlamentarier sowie die akkreditierten Medienschaffenden mit Ausweis. Für die Besucher sowie weitere Medienleute findet eine Kontrolle statt. Um die Sicherheit der Landrätinnen und Landräte im Saal und einen störungsfreien Ablauf der Landratssitzungen zu gewährleisten, wird im ersten Obergeschoss des Treppenaufgangs mittels Metalldetektor eine Eingangskontrolle durchgeführt, und zwar für die unbekannten Besucher und die Medienschaffenden, die sich nicht ausweisen können. Der Aufzug wird am Sitzungstag ausser Betrieb genommen.»
Endlich mehr Sicherheit
Nachtrag: Die von vielen Beteiligten zunehmend als lästig empfundene Eingangskontrolle mittels Metalldetektor wurde einige Zeit später wieder aufgegeben. Situativ ist zwar Polizei vor Ort, doch zumindest die sichtbaren Sicherheitsmassnahmen rund um den Parlamentsbetrieb sind – anders als in anderen Kantonsparlamenten, den Gerichten oder auch im Bundeshaus – seither nicht schärfer, als sie es noch vor dem Attentat von Zug waren. Jetzt soll sich dies ändern: Der Landrat hat im Vorjahr einem Kredit von rund 13 Millionen Franken für den Umbau des Regierungsgebäudes in Liestal zugestimmt, der Baubeginn steht noch aus. Ein grosser finanzieller Posten ist dabei für den Bereich Zugangskontrolle und Sicherheit reserviert. In der Umbau-Vorlage der Regierung vom August 2020 ist unter anderem zu lesen:
Durch die nicht kontrollierten Eingänge ist der Zutritt während den Öffnungszeiten unbeschränkt möglich. Dies führt immer wieder zu unangenehmen, teilweise auch bedrohlichen Situationen und stellt ein Sicherheitsrisiko dar. Zum Schutz von Landrat und Regierungsrat, besonders aber zum Schutz der Mitarbeitenden, besteht das Bedürfnis, die Personensicherheit im Regierungsgebäude zu erhöhen und den Zugang zu kontrollieren.
Und weiter: Diverse weitere Massnahmen, wie der Einbau eines Fluchtwegs aus dem Landratssaal ins östliche Treppenhaus, verbessern die Situation in Bezug auf spezifische Bedrohungsrisiken.
In Zug wurde der Kantonsratssaal bereits 2004 mit einer Fluchttreppe und einem weiteren Notausgang ausgestattet. Der Landratssaal in Liestal besitzt heute zwar zwei Zugänge, doch sie befinden sich auf der gleichen Seite. Kommt die Bedrohung von dort, sitzen die Anwesendem in diesem Raum «in der Falle». Baselland zieht nun, 20 Jahre danach, die Lehren aus dem Fall Zug. Vielleicht müsste man hier das Wörtchen «endlich» hinzufügen.