Martin Stohler

Die Eltern wird es kaum gefreut haben, als ihnen ihr Sohn Alfred sagte, dass er vorübergehend als Hauslehrer im fernen Dombass arbeiten werde. Im Zarenreich waren die Nachbeben der Revolution von 1905 noch immer zu spüren, man las in den Zeitungen von Bombenanschlägen und Schiessereien. Und nachdem Alfred vor Kurzem sein Studium der Naturwissenschaften an der Universität Basel abgeschlossen hatte, hätte er ja auch eine Stelle in der Schweiz suchen können …

Gysins Arbeitgeber im Dombass war Zygmunt Toeplitz, der Direktor einer grossen Sodafabrik in der Nähe der Stadt Lissitschansk. Das Unternehmen gehörte zum belgischen Solvay-Konzern. Es umfasste neben den Produktionsanlagen Wohnhäuser für die Arbeiter und deren Familien, eine Schule für die Kinder, eine Apotheke, einen Einkaufsladen und sogar ein Fabrikorchester. Für den Fall, dass sich seine Eltern um seine Sicherheit sorgten, liess er sie nach seiner Ankunft wissen: «Die Arbeiter sollen recht zufrieden sein, sodass man hier zuletzt einen Aufstand gewärtigen muss.»

Mühsamer Unterricht
Gysins Aufgabe als Hauslehrer bestand darin, Janek, den zwölfjährigen Sohn des Direktors, in Deutsch, Französisch, Zeichnen, Algebra und Geometrie zu unterrichten. Leider erwies sich der Schüler nicht als besonders lernbegierig. Mit seinem Zögling habe er viel Mühe, «er ist schrecklich zerstreut und interessiert sich am wenigsten für Sprachen, das heisst Deutsch und Französisch, auf welche ich eben besonderes Gewicht legen muss».

Gysin war ein kontaktfreudiger Mensch, er schloss rasch Bekanntschaft mit Monteuren und Ingenieuren der Sodafabrik, darunter auch zwei Schweizer. An die Mutter schrieb er: «Ich bin fortwährend eingeladen und muss immer Zither spielen.» Dabei ging es sehr gesellig zu: «Heute Abend war ich bei Monteur Frey. Wir haben gejödelt und gesungen. Der Tscheche Kuna spielte Violin (aber super!), ein junger Belgier spielte ganz rassig Handorgele, ein anderer Belgier (Monteur) liess sein Grammophon krächzen und sass stumm da, seine Cigarette rauchend und ganz versunken in seine herrliche Tingeltangel Pariser-Leben-Musik.»

Schon bald zupfte Gysin, der musikalisch ziemlich begabt war, Bass im Fabrikorchester, und bei einem Gottesdienst kam er als Organist zum Einsatz. In seiner Freizeit liess er sich Russischstunden geben, im Gegenzug erteilte er Deutschunterricht.

Dass Gysin in seinen Briefen ab und zu auch Frauen erwähnte, scheinen die Eltern mit gemischten Gefühlen aufgenommen zu haben. Wohl als Reaktion auf etwaige Befürchtungen schrieb er ihnen: «Wegen der Polin braucht Ihr keine Angst zu haben, durchaus nicht!» In einem späteren Brief bemerkt er: «In Liebessachen ist man eben hier in Russland ganz anders als bei uns. Einerseits ist der Verkehr der Geschlechter viel ungezwungener, und ich darf mit einem Fräulein spazieren gehen, ohne dass die Leute die Hälse strecken und wissen wollen, wann Verlobung sei und Hochzeit. Andererseits haben dann wieder die Eltern noch grosse Rechte, ihre Kinder einfach zu verheiraten, wie es ihnen gefällt.»

Einen beträchtlichen Unterschied stellte Gysin, der ein überzeugter Abstinenzler war, auch punkto Sozialleben fest. In Russland herrsche nicht die Unsitte, dass der Mann seine freie Zeit im Wirtshaus verbringe, «während sich die Frauen und Töchter daheim langweilen. Hier geht eben die eine Familie zur andern auf Besuch, das heisst Mann und Frau mit oder ohne Kinder. Nichts Gemütlicheres gibt es als den Samowar, der ein Glas Tee nach dem andern spendet.»

Schüsse und Bombenanschläge
Mit dem «Oktobermanifest» von 1905 hatte der Zar zwar Reformen in Aussicht gestellt. Das Land kam aber noch länger nicht zur Ruhe. Als Gysin im September 1906 auf seiner Reise in den Donbass in Warschau – Polen war damals Teil des Zarenreichs – Zwischenhalt machte, wimmelte es in der Stadt von Soldaten. Nach Hause schrieb er: «Jeden Tag wird in Warschau in irgendeinem Teil geschossen.» Im März 1907 berichtete Gysin aus Charkow: «Heute Mittag sind in der Mironositzkaja Strasse zwei Bomben geworfen worden, so zur Abwechslung, denn Charkow ist ziemlich langweilig. Die berittene Polizei hat die vielen Neugierigen, worunter auch mich, höflich aber bestimmt zurückgewiesen. Sie scheint auch nicht immer mit den auszuführenden Befehlen einverstanden zu sein.»

Ebenfalls in Charkow kam es zu einer Schiesserei zwischen Polizisten und revolutionären Studenten. Dabei tötete eine Bombe zwei Polizisten und verwundete mehrere. Bei der anschliessenden Verfolgung wurden zwei Studenten, wie Gysin schreibt, «wehrlos von den Polizisten niedergesäbelt», ein dritter nahm sich, in die Enge getrieben, das Leben. Die Studenten wurden «im Stillen beerdigt, um weitere Unruhen zu vermeiden, denn die Mehrzahl der Bevölkerung steht eben auf Seiten der Revolutionäre».

Abschied von Russland
Solche Berichte dürften die Lieben daheim mit wachsender Sorge erfüllt haben. Um sie zu beruhigen, schrieb Gysin im Juli 1907 nach Hause: «Also wegen der Revolution braucht Ihr nicht so Angst zu haben; einstweilen haben vor allem die Ausländer nichts zu befürchten, weniger als die Einheimischen.»

Im März 1907 endete Gysins Anstellung als Hauslehrer wie abgemacht. In der Folge gab er Privatstunden und bemühte sich um eine neue Stelle. Gerne wäre er noch länger in Russland geblieben – bis anhin hatte er nur Teile von Kleinrussland, also der heutigen Ukraine, gesehen. Nach Hause schrieb er: «Bis jetzt habe ich nur eine der unbedeutendsten Städte (Charkow) recht gesehen und Warschau zwei Tage und die Sodafabrik mit ihrer Kulturbeeinflussung auf das Dorf, kann also durchaus nicht sagen, ich kenne Russland. Moskau und Kiew muss ich wenigstens noch sehen und etwa Taganrog am Asowschen Meere. So gern ich heimkehre, so gern möchte ich noch diesen Winter hierbleiben, wenn ich etwas nur einigermassen Passables finde. Nicht dass ich mich russifizieren liesse; bewahre!»

Trotz verschiedener Bemühungen gelang es Alfred Gysin nicht, eine passende Stelle zu finden. Im September 1907 kehrte er in die Schweiz zurück. Hier arbeitete er zunächst als Primarlehrer in Neuhausen am Rheinfall. Nach dem Ersten Weltkrieg unterrichtete er 34 Jahre an der damaligen Mädchensekundarschule (später: Mädchenrealschule) in Basel zuerst naturwissenschaftliche Fächer, dann Gesang und Musik. Im Jahr 1916 heiratete er Hanna Oester; die beiden hatten drei Kinder. Alfred Gysin verstarb 1964.

Die Russlandbriefe als Buch

sto. Alfred Gysins Briefe lagen lange in einem Kuvert im Privatarchiv der Familie. Im Jahr 2017 gelangten sie über Enkel Hanspeter Gysin an die Professur für Osteuropäische Geschichte der Universität Basel. Im Frühjahr 2018 erhielten 16 Studierende die Gelegenheit, die Briefe zu studieren und kurze Essays zu verfassen, die den historischen und kulturellen Hintergrund von Gysins Schreiben beleuchten. Briefe und Essays sind nun in einem Band erschienen.

Frithjof Benjamin Schenk (Hg.): «Russland von ferne oder aus der Nähe ansehen ist immer noch zweierlei» – Das Zarenreich 1906 bis 1907 in den Briefen des Schweizer Hauslehrers Alfred Gysin. Christoph Merian Verlag, Basel 2021, 228 Seiten.

Alfred Gysins Erlebnisse im Zarenreich

Image Title

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Ja. Ich benötige ein Abo.

Article

Image Title