HERZBLUT
20.07.2021 GesellschaftOhne GPS in York
Die besseren Briten schätzen nichts so sehr wie ihr Home, ihren Tea, ihre Queen und ihren Lawn. Auf heiligem Rasen wurden vor neun Tagen im Nordwesten Londons die beiden bisherigen Höhepunkte des Sportjahres ausgetragen, in Wimbledon und im ...
Ohne GPS in York
Die besseren Briten schätzen nichts so sehr wie ihr Home, ihren Tea, ihre Queen und ihren Lawn. Auf heiligem Rasen wurden vor neun Tagen im Nordwesten Londons die beiden bisherigen Höhepunkte des Sportjahres ausgetragen, in Wimbledon und im Wembley. Obwohl ich mich häufig in England aufgehalten habe, kenne ich als ehemaliger Englisch-Student und Sportreporter beide Stadien nur vom Fernsehen.
Einmal verfolgte ich dank Tracy einen Wimbledon-Final sogar in London selber – vor der Kiste. Tracy war die Freundin meiner Cousine und lebte im Südwesten Englands. Da ihre Eltern ein Pub führten, durfte ich dort am Nachmittag, wenn alle Pubs geschlossen sind, ein gezapftes Pint of Guinness trinken, bis Tracys Dackel mein Glas mit seiner Zunge auszulöffeln begann und in einen tiefen, gesunden Schlaf fiel.
Im Jahr darauf lebte Tracy in London. Sie verkaufte Kleider in einer Boutique in der City. Die Cousine lieferte die Adresse. Dort schaute ich rein, just um ein Hello loszuwerden, und sie lud mich für den Final in ihre dackel- und guinness-lose Einzimmerwohnung ein. Dort glotzte ich auf den Screen und schwärmte ihr in gestelztem Oxford-English mit alemannischem Einschlag von Borgs Aufschlag und den epischen Ballwechseln vor. Sie könnte sich vom Besuch etwas Kurzweiligeres erhofft haben. Doch, hey, es war Wimbledon.
Dass ich damals die Boutique überhaupt gefunden habe, liegt daran, dass ich mich in London schnell zurechtfand. Ein kurzer Blick auf die Karte, das Verinnerlichen der wichtigsten Strassennamen und Orientierungspunkte am Horizont reichen da. Nicht zu vergessen die Sonne, die allen, die noch eine analoge Uhr tragen, mit dem alten Pfadi-Trick das Quartett der Himmelsrichtungen verrät.
Kurz vor Corona überrascht mich meine bessere Hälfte mit einer Ferienwoche in London. Mein Schwärmen hat gewirkt. Und es funktioniert noch immer. Noch so viele Kilometer legen wir zurück, alle Ziele finden wir auf Anhieb. Bisweilen befällt mich das Gefühl, dass das G in «GPS», dem System, das uns am Handy oder im Auto zielsicher an den richtigen Ort lotst, von meinem Nachnamen abgeleitet sein könnte.
Wäre da nicht York. Was in London funktioniert, klappt sicher auch in der kleineren Stadt im Norden Englands, die New York zum Namen verhalf. Sie besuchte ich mit einem Studienfreund. «To polish up our English», erzählten wir daheim, widmen uns aber dort doch eher dem Wirtschaftsstudium. Unsere Bleibe lag an der Ausfallstrasse beim Yorker Stadttor – easily zu finden.
Doch plötzlich standen wir vor dem falschen Reihenhaus. «Fragen wir einfach», schlug mein Freund vor. Doch dagegen sprachen drei Gründe: Das Image des dussligen Touristen vermeiden; zudem hatten wir eben im Pub ernüchternd festgestellt, keinen Satz dieses Dialekts zu verstehen; and first of all mein Stolz. Lieber irren wir weiter. Als ich endlich einlenkte und verstohlen den Reiseführer hervorkramte, war das Rätsel schnell gelöst: York zählt vier, teils gleich aussehende Stadttore, nicht eines.
Jürg Gohl, Autor «Volksstimme»