Happy Hour in Hadschi-El-Baracki
30.07.2021 Kultur, SissachHanspeter Gsell
Was haben wir gelitten vergangenes Jahr! Alles war und wurde uns verboten, Ferien waren in weite Ferne gerückt. Dachten wir noch, als uns Didi fragte, ob wir nach «Hadschi-El-Baracki» mitkommen würden.
Natürlich kannte ich diesen im ...
Hanspeter Gsell
Was haben wir gelitten vergangenes Jahr! Alles war und wurde uns verboten, Ferien waren in weite Ferne gerückt. Dachten wir noch, als uns Didi fragte, ob wir nach «Hadschi-El-Baracki» mitkommen würden.
Natürlich kannte ich diesen im höchsten Masse obskuren Ort nicht. Hadschi-El-Baracki liegt am Roten Meer, meinte Didi, ist ganz und gar nicht obskur, sondern seriös. Sehr seriös sogar. Ich sagte sofort Ja. Meine Frau Monika schaute mich entgeistert an. Sie wusste, dass ich vor Jahren geschworen hatte, nie mehr bei Aladin und seinen Wunderlampen zu nächtigen. Sie bedingte sich eine Wartefrist von zwölf Stunden aus. «Dann bist du wieder nüchtern!»
Reisen nach Ägypten waren möglich. Die internationalen Flughäfen am Roten Meer boten den Reisenden an, sich direkt bei der Einreise testen zu lassen. Auch eine spätere Rückreise in die Schweiz war zu jener Zeit problemlos möglich. Das orientalische Nasenbohren sollte gerade mal 30 Euro kosten. Stäbchen rein in die Nase, ein paar Mal umdrehen und wieder raus. Das wars dann auch schon. Wir mussten die Adresse unseres Hotels hinterlassen, im Falle eines positiven Tests wären wir informiert worden. Eine mögliche Quarantäne hätten wir innerhalb des Hotelareals und ohne Beschränkungen aussitzen können. Um es vorwegzunehmen: Niemand hat sich angesteckt, weder bei der Anreise, im Hotel noch bei der Rückreise.
Onkel Fritz aus Afrika
Auch Onkel Fritz, ein Bruder meiner Grossmutter mütterlicherseits, hatte diese Gegend vor über 100 Jahren besucht. In seinen Tagebüchern habe ich folgenden Eintrag gefunden:
«Gemütlich lag ich in einem Liegestuhl und döste vor mich hin, als Esther erschien. Zusammen beobachteten wir die Schiffe, die in der Nähe von Hadschi-El-Baracki unterwegs waren. Esther lieh mir das Fernglas ihres Vaters und zeigte mir die rostroten Berge des gewaltigen Sinai-Massivs.
‹Genau deshalb nennt man dieses Meer das Rote Meer, obwohl es so blau wie der Himmel ist.›
‹Beinahe so blau wie deine Augen!›, antwortete ich und lief rot an.
Esthers Vater hatte das Gespräch aus der Ferne mitverfolgt, griff jedoch nicht ein.
‹Ist da nicht vor einigen Jahren jemand übers Wasser gelatscht?›, fragte ich die gescheite Esther.
Da Esther keine Ahnung hatte, was ich mit ‹latschen› meinte, korrigierte ich meine Frage.
‹Da war doch was mit Jesus, der auf dem Wasser lief.›
‹Jein. Jesus wandelte über den See Genezareth, in Palästina. Hier im Roten Meer hat unser Herrgott das Meer geteilt. Moses und die Israeliten waren auf der Flucht vor den Streitkräften des Pharaos. Beinahe wären sie erwischt worden. In diesem Moment griff Gott ein, das Meer teilte sich, Moses konnte mitsamt seinen Mitreisenden trockenen Fusses die andere Seite erreichen. Das ägyptische Heer jedoch ersoff jämmerlich.›
Meine Freude über die Rettung von Moses hielt sich in Grenzen. Ich hatte eher Mitleid mit den Tausenden von Ägyptern, die elendiglich ertrunken waren. Da ich ahnte, dass Esther anderer Meinung war, sagte ich nichts.
‹Und wie war das mit dem Rosenbusch? Ist das auch so eine Räubergeschichte?›
‹Ich weiss nicht, was eine Räubergeschichte sein soll, aber ich habe schon ‹Die Räuber› von Schiller gelesen.›
Ich war beeindruckt. Esther las Schiller? Das wurde ja immer besser!
Esther fuhr fort: ‹Irgendwo dort› – sie zeigte mit ihrem Arm in Richtung Sinai – ‹irgendwo dort hinten liegt der Moses-Berg. Dort hat Moses vom Herrgott die Zehn Gebote erhalten. Anschliessend hat jemand einen dürren Busch angezündet und Moses hat den Befehl erhalten, sein Volk aus der ägyptischen Gefangenschaft nach Israel zu führen.›
Also doch eine Räubergeschichte dachte ich und staunte über das Wissen des Mädchens. Gerne hätte ich ihr noch weitere Fragen gestellt. Zum Beispiel, wie man aus Wasser Wein machte, ich hatte nämlich einen gewaltigen Durst.»
Beinahe überall auf der Welt begegnen wir ihnen, diesen «Glücklichen Stunden». Sie bedeuten meistens, dass man während einer bestimmten Zeit etwas geschenkt bekommt. Das kann ein Gratisgetränk nach der Formel «bestelle eins – bekomme zwei» sein. Oder aber ein paar Salznüsse oder Lachsbrötchen gratis zum Getränk. Nicht überall auf der Welt ist jedoch ersichtlich, ob das Angebot zur Happy Hour wirklich den Gast glücklich macht. In manchen Fällen könnte auch der Wirt der Glückliche sein.
New Orleans, French Quarter. Ein verrauchter Jazzkeller will uns mit seinem Angebot glücklich machen. Zwei für eins, dazu Musik der Original New Orleans Revival-Band mit Louis Armstrong. Ich bestelle für mich ein Bier, meine Frau wird das offerierte Gratisbier trinken. Da meine Frau Bier nicht mag, eine durchaus aussergewöhnliche Bestellung. Nichts da, meinte der Kellner. Zwei für eins gilt nur und ausschliesslich für den Besteller. Was trinkt ihre Frau, fragte er weiter? Da die Zeit drängte – die Band befand sich bereits in der Aufwärmrunde –, rief meine Frau geistesgegenwärtig: «Dann bringen sie mir …». Der Rest des Satzes ging in einem Trommelwirbel unter.
Nach zwei Minuten standen vier grosse Bier auf unserm Tisch. Vor uns zwei Liter eines eiskalten Getränks, dass bei einer Blind-Degustation im besten Fall einen von hundert Punkten erhalten hätte, auf der Bühne laute Musik, jedoch logischerweise kein Armstrong weit und breit. Dieser hatte bereits vor vielen Jahren das Zeitliche gesegnet. Nach zwei Musikstücken senkte sich der imaginäre Vorhang vor der Bühne. Der Kellner meinte, es wäre nun Zeit für uns, das Etablissement wieder zu verlassen. Die Happy Hour sei beinahe vorbei, er müsste uns ansonsten nochmals vier grosse Biere bringen. Ich bezweifelte, dass auf meinem kleinen Tischchen acht Biergläser Platz gehabt hätten. Ich nickte meiner Frau zu, sie nickte zurück, und fort waren wir.
Hadschi-El-Baracki
Zurück nach Hadschi-El-Baracki. Hierhin sind wir, nach einer zwölfstündigen Wartefrist, geflohen. Auch hier gab es zwischen fünf und sechs Uhr abends eine Happy Hour. Anders als in New Orleans, ging es hier deutlich einfacher her und zu. Wenn man ein Bier bestellte, bekam man zwei Bier. Wenn man einen Gin Tonic bestellte, bekam man zwei Gin Tonic. Da Didi ein altbekannter Gast war, wurde die Regel auf Wunsch auch abgeändert. Und so bekam er bereits kurz nach zwölf Uhr zwei Gin Tonic. Seine Frau und der Nachwuchs ebenfalls. Da uns der Kellner kurzerhand zu Verwandten erklärt hatte, bekam auch ich zwei Bier, meine Frau zwei Gin Tonic.
Unser Hotel war, an ägyptischen Verhältnissen gemessen, klein. Zudem durften während der Corona-Zeit nur 30 Prozent der Zimmer belegt werden. Es war wesentlich kleiner als die internationalen Hotelkästen, die sich offensichtlich in die Kategorie Pyramiden einteilen lassen wollten. Um diese Pyramiden herum – sie waren mehrheitlich geschlossen – waren Golfplätze angelegt, die den Grössenvergleich mit einem interkontinentalen Flughafen nicht scheuen mussten. Nur ein einziger, kleiner Betrieb wollte diesen Grössenwahn nicht mitmachen und hatte beschlossen, klein zu bleiben. Er hatte sich an eine kleine Bucht am Meer angeschmiegt und zog eine ganz bestimmte Kundschaft an: Kiter und Kiffer. Der nicht immer dezente Geruch nach schwarzen Afghanen und grünen Libanesen lag über dem Areal, die Stimmung war friedlich, nichts und niemand störte uns. Nach einigen Stunden Aufenthalt in der von orientalischen Gerüchen verwöhnten Bucht, kehrten wir wieder in unser Hotel zurück.
«Bei unserm letzten Besuch ist Kari mit dem Golfkarren ins Meer geplumpst,» sagte Didi, als wir gemütlich beim Apéro sassen. Die riesige Sonne, gleichzeitig rot, orange gelb und gleissend hell, versank hinter den Bergen, die Gespräche, wenn man solche Wortspiele als Gespräche bezeichnen kann, flachten ab und endeten mit Sätzen wie «Weisch no!». Natürlich musste auch der Absturz, der eigentlich gar kein Absturz war, ausgiebig besprochen werden.
Der Absturz
Die dem Hotel angegliederte Tauchbasis fuhr die Taucher über einen 400 Meter langen Holzsteg bis zum Einstieg in die Bucht hinaus. 400 Meter über aufgeheizte Holzdielen zu laufen, war ein Vergnügen, das niemand erleben wollte. Und so sassen Gruppen zu vier Personen in einen Golfwagen und liessen sich hinauskarren. Kari war das fünfte Rad am Wagen, hatte somit theoretisch keinen Platz mehr auf den Gästesitzen und musste notgedrungen neben dem Fahrer Platz nehmen.
Infolge eines neuen Knies – vielleicht war es auch ein neues Hüftgelenk – hatte er etwas Mühe mit der Platzierung seiner Beine. Und so kam es, dass sein rechter Fuss auf dem Gaspedal zu liegen kam. Das Elektromobil beschleunigte sofort zügig. Etwas zu zügig vielleicht. Denn der ägyptische Fahrer konnte sich nicht zwischen den vier Beinen entscheiden und fand das Bremspedal nicht. Und so kam es, dass das Mobil viel zu schnell auf die erste Kurve zufuhr und diese auf zwei quietschenden Rädern passierte. Dann aber hatten sie nur noch das tiefe, blaue Meer vor sich. Kurz vor dem Ende des Steges kam der Wagen zum Stehen.
In loser Folge erscheint in der «Volksstimme» die vierteilige Serie «Auf der Flucht» des Sissachers Hanspeter Gsell.