Reformvorschläge des Bundes sind umstritten
07.05.2021 Bezirk LiestalDer KV Baselland äussert sich gegen Qualitätsverminderung bei Ausbildung von Kaufleuten
Über ein Drittel der Lernenden im Baselbiet absolviert eine Lehre als Kauffrau/Kaufmann. Mit dem vom Bund initiierten Reformprojekt «Kaufleute 2022» soll diese Berufsausbildung ...
Der KV Baselland äussert sich gegen Qualitätsverminderung bei Ausbildung von Kaufleuten
Über ein Drittel der Lernenden im Baselbiet absolviert eine Lehre als Kauffrau/Kaufmann. Mit dem vom Bund initiierten Reformprojekt «Kaufleute 2022» soll diese Berufsausbildung insbesondere im Bereich der IT auf Vordermann gebracht werden.
André Frauchiger
Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation des Bundes (SBFI) plant eine Totalrevision der Ausbildung der KV- und Detailhandelsberufe. Diese haben für die Schulen und die gesamte Berufsbildung einschneidende Änderungen zur Folge, wie alle Beteiligten festhalten. Dabei geht es darum, mit der Ausbildung den aktuellen Bedürfnissen des Arbeitsmarkts gerecht zu werden und die Lernenden auf die zunehmend digitalisierte Arbeitswelt vorzubereiten. Die ersten Vorschläge des Bundes sind aber in den Fachgremien umstritten.
Nach Ansicht des SBFI soll die klassische Fächerstruktur der KV-Ausbildung aufgelöst werden. Neu sollen die Jugendlichen «Handlungskompetenzen erlangen». Anstelle von Deutsch und Mathematik soll im Stundenplan «Interagieren in einem vernetzten Arbeitsumfeld» oder «Gestalten von Kunden- und Lieferantenbeziehungen» stehen. Mehr noch: Fächer wie Finanz- oder Rechnungswesen sollen nicht mehr obligatorisch sein. Zudem soll neu nur noch eine Fremdsprache verlangt sein – aber nicht mehr zwingend eine Landessprache. Von den drei Leistungszügen B (Basis), E (Erweitert) und M («Berufsmatur») wird allenfalls B oder E gestrichen werden. Schliesslich soll es bei den Lehrabschlussprüfungen keine Noten pro Fach mehr geben.
Die Baselbieter Bildungsdirektorin Monica Gschwind hat sich kürzlich im Landrat in einer Antwort auf einen dringlichen diesbezüglichen Vorstoss sehr kritisch zu den Vorschlägen des Bundes geäussert. Sie wies insbesondere darauf hin, dass Fachkenntnisse in Finanz- und Rechnungswesen essenziell seien. Die Reduktion auf eine Fremdsprache sei staatspolitisch sehr heikel. Denn sie bedeute wohl einen Verzicht auf die französische Sprache als eine der Landessprachen – zugunsten des Englischen. Die Angelegenheit sei sehr heikel und bedürfe auch der Einflussnahme des Bundesrats und der Kantone. Die Handelskammer beider Basel und der Arbeitgeberverband Basel haben sich in der Zwischenzeit für die Verschiebung der Neuerungen um ein Jahr auf das Schuljahr 2023/24 starkgemacht. Denn es braucht ihrer Ansicht nach mehr Zeit, um die einzelnen Neuerungen in den Fachgremien, insbesondere auf Ebene des schweizerischen KV-Dachverbands, zu prüfen.
«Es müssen alle ins Boot geholt werden»
Die «Volksstimme» hat bei Rolf Schweizer, Leiter Schulen kvBL, und Christine Mangold, der früheren Geschäftsführerin des Kaufmännischen Verbandes Baselland, nachgefragt, was der Kaufmännische Verband Baselland von den Neuerungen hält.
André Frauchiger
Sind die KV-Reformen für Baselland sehr wichtig?
Rolf Schweizer: Ja, das sind sie. Denn die Ausbildung muss à jour sein. Mir geht es darum, dass die Reformen gut umgesetzt werden können. Wir arbeiten gut mit dem Kanton Baselland und auch mit Basel-Stadt zusammen. Als KV-Schule bauen wir eine interne Arbeitsgruppe auf – mit internem Projektmanagement für die Reformen. Ich stehe den Reformen grundsätzlich positiv gegenüber. Die Neuerungen dürfen aber nicht zu einer Qualitätsverminderung in der Ausbildung führen – beispielweise mit nur einer Fremdsprache und dem Streichen des Obligatoriums bezüglich Finanz- und Rechnungswesen. Der laufende Erarbeitungsprozess ist grundsätzlich positiv, inhaltlich gibt es aber noch viel zu tun.
Christine Mangold: Die letzte Totalrevision fand 2003 statt. Anfang 2018 wurde mit der Reform «Kaufleute 2022» begonnen. Die Reform ist für den kaufmännischen Beruf wichtig. Es ist ein gesamtschweizerischer Prozess, die Kantone wurden in die Vernehmlassung einbezogen. Der Kaufmännische Verband Schweiz ist da an vorderster Front mit dabei, die KV-Sektionen sind nicht direkt in das Vernehmlassungsverfahren involviert und haben sich deshalb bisher auch nicht an die Öffentlichkeit gewandt. Die Baselbieter Regierung ist aber voll in das Vernehmlassungsverfahren integriert. Der heutige Hauptkritikpunkt betrifft die vom Bund beabsichtigte Einführung der Reform im Jahr 2022. Das ist aber nicht haltbar. Zu viel muss noch diskutiert und revidiert werden.
Es ist also Ihrer Ansicht nach noch nichts in Stein gemeisselt?
Mangold: Das Vernehmlassungsverfahren ist abgeschlossen. Es muss nun sorgfältig ausgewertet werden. Die Pandemie hat gezeigt, dass wir im IT-Bereich nicht auf dem neuesten Stand sind, obwohl das KV diesbezüglich besser aufgestellt ist als andere Berufsschulen. Gegen eine Reform kann deshalb grundsätzlich niemand sein. Ich hoffe aber, dass die Kritikpunkte aufgenommen und überprüft werden. Die Diskussionen brauchen Zeit, es müssen alle ins Boot geholt werden. Ich bin wie gesagt nicht grundsätzlich gegen Reformen – aber die Einführung kommt erst für 2023/24 infrage.
Wie wollen Sie die Lehrkräfte für die Reformen gewinnen?
Schweizer: Change-Prozesse in Schulen funktionieren nur, wenn die Betroffenen, also die Lehrerinnen und Lehrer, «mitgenommen» werden. Die Schule ist nach wie vor stark personenbezogen, sie ist eine eigentliche Beziehungsgeschichte. Deswegen braucht es Zeit für die Überzeugungsarbeit in der Lehrerschaft, sonst passiert nichts im Klassenzimmer, ist das Ganze ein Scheingefecht. Die einjährige Verzögerung muss deshalb im Interesse der Sache in Kauf genommen werden. Ich denke, die entsprechenden Fachgremien auch des Bundes haben dies bereits verstanden.
Mangold: Die ganze Umsetzung ist für die Lehrpersonen ein Paradigmenwechsel und stellt hohe Anforderungen an sie. Ein Kritikpunkt sind unter anderem die noch fehlenden Orientierungshilfen für die Lehrkräfte. Es braucht zwingend entsprechende gezielte Weiterbildungen der Lehrerschaft. Schliesslich muss der Budgetprozess des Kantons mitberücksichtigt werden – Gelder für Reformen müssen budgetiert sein.
Schweizer: Im Budget für das laufende Jahr sind Finanzen für die KV-Reform eingestellt. Wir arbeiten eng und gut mit den kantonalen Stellen zusammen. Geklärt werden muss, welche Auswirkungen die Reform allenfalls auf die Lehrkräfte hat. Gefragt ist generell das Teamwork in der Lehrerschaft. Der Unterricht wird auch in Zukunft im Klassenzimmer, mit dem angestammten Lehrpersonal, stattfinden, aber mit modernen, zeitgemässen Inhalten und Methoden.
Mangold: Auch die Lernorte müssen anders als bisher miteinander vernetzt werden. KV-Lernende kommen ja aus den verschiedensten Branchen. Auch die Lehrbetriebe müssen voll in die neuen Prozesse integriert werden.
Schweizer: Ja, denn wir sind ja nicht einfach nur eine Branche, sondern mit vielen Branchen verbunden – von der Gärtnerei bis zum grossen Handels- und Industriebetrieb. Der KV ist ein Branchenverband – aber mit einem unglaublich breiten Spektrum. Mit regionalen Betrieben, wo Französisch gefragt sein kann, aber auch mit internationalen Grossbetrieben, wo nur Englisch gesprochen wird.
Die Vorschläge des Bundes müssen also noch gründlich überarbeitet werden?
Mangold: Grundsätzlich ja. Ich kann mir zum Beispiel überhaupt nicht vorstellen, dass erst im dritten Lehrjahr das Thema «Rechnungswesen und Finanzen» zur Sprache kommen soll.
Schweizer: All diese Fragen müssen noch vertieft diskutiert werden. Eines ist für uns absolut klar: Das Finanz- und Rechnungswesen und zwei Fremdsprachen gehören zur Qualität unserer Schule. Daran wollen wir festhalten.
Mangold: Der Kaufmännische Verband Schweiz gestaltet den Reformprozess «Kaufleute 2022» aktiv mit. Dort können wir uns einbringen. In unserem kantonalen Vorstand werden die Reform-Punkte im Juni zur Sprache kommen. Die Stellungnahme wird dann gebündelt dem schweizerischen KV-Dachverband übermittelt.
Haben Korrekturen an den Vorschlägen des Bundes wirklich eine Chance?
Schweizer: Ich bin überzeugt, dass das Resultat dieser Reformbestrebungen für die mittel- bis langfristige Zukunft der KV-Ausbildung gut sein wird. Denn die schweizerische KV-Ausbildung ist letztlich auch international gesehen einzigartig.
Mangold: Das sehe ich auch so – das Beispiel Fremdsprachen zeigt dies deutlich. Aufgrund von Interventionen wurde eine Lösung für eine zweite Fremdsprache gesucht – und das Resultat ist jetzt in Vernehmlassung. Aber eben: Um genügend Zeit zu haben, muss die Einführung der Reform um ein Jahr verschoben werden. Das geht nicht anders. Es darf eben wirklich nicht vergessen werden: Die KV-Ausbildung ist der grösste Bereich in der Berufsbildung. Und damit hat sie sehr weitreichende Auswirkungen in unserer schweizerischen Ausbildungslandschaft.
Die KV-Ausbildung wird also nicht schlechter gestellt?
Schweizer: Nein, wir arbeiten genau in die andere Richtung!
Mangold: Die kaufmännische Grundbildung wird durch die Reform für die Zukunft fit gemacht und kann sich dem Wettbewerb stellen. Sie soll an Attraktivität gewinnen. Das ist das Ziel. Noch ein Wort zur mittelfristigen Zukunft der KV-Ausbildung: Vor 150 Jahren wurde die KV-Lehre durch den Kaufmännischen Verband ins Leben gerufen. Mit der aktuellen Reform wird wiederum gezeigt, dass man die Ausbildung weiterhin für sehr wichtig hält. Ich bin überzeugt, dass die KV-Lehre auch langfristig Bestand haben wird. Es muss aber jetzt auch darauf geachtet werden, dass die Reformen nicht übers Ziel hinausschiessen. Aber ich denke, das wird gelingen.
Sind kaufmännisch ausgebildete Leute der Kitt des Berufslebens?
Schweizer: Ja, das kann man so sagen.
Mangold: Man macht die KV-Lehre und kann sich danach im Laufe seines beruflichen Lebens in die verschiedensten Richtungen weiterentwickeln. Das macht diese Ausbildung so spannend.
«Ein Lehrstellenkiller?»
fra. Die Baselbieter SP-Nationalrätin Samira Marti hat am Dienstag im Nationalrat unter dem Titel «KV-Reform 2022: Ein Lehrstellenkiller?» mit elf Mitunterzeichnenden eine Interpellation eingereicht. Darin kritisiert sie, dass bei einer KV-Lehre nur noch eine Fremdsprache obligatorisch sein soll und dass diese von den Kantonen gewählt werden könne. Ebenso bemängelt sie, dass die Fächer Deutsch und Mathematik abgeschafft werden und verschiedene Pflichtfächer wie Finanz- und Rechnungswesen nur noch optional gewählt werden sollen. Die vorgeschlagene Zusammenlegung des B- (Basis) und E-Profils (erweiterte Grundbildung) würde ihrer Meinung nach «zuungunsten der schwachen Schülerinnen und Schüler» erfolgen.
Die Nationalrätin will nun vom Bundesrat grundsätzlich Auskunft über seine Haltung zu dieser Reform, die ihrer Ansicht nach «die Allgemeinbildung schwächt». Samira Marti will auch wissen, ob die Berufsschulen und die KMU in den Gesamtprozess der Reform einbezogen wurden, ob die Landessprachen nicht geschwächt werden und was unternommen wird, damit «die schwächsten Schülerinnen und Schüler nicht unter die Räder kommen».
Samira Marti stellt zudem die Frage nach einer Verschiebung der Reform, dies «zugunsten eines breiten Einbezugs der Basis». Sie weist darauf hin, dass bei der vorliegenden Reform eine «komplette Umstellung der Ausbildung der Ausbildnerinnen und Lehrpersonen verlangt» werde. Deshalb fragt sie auch nach einem Konzept zur Weiterbildung. Der Bundesrat wolle die Reform kostenneutral umsetzen. Marti: «Wie soll das bei solch umfassenden Änderungen möglich sein?»