MEINE WELT
07.05.2021 GesellschaftEine Quarantäne der Zuversicht
Einst war Europa regelmässig mit Epidemien konfrontiert. In den Städten war Wohlstand und Hygiene ein Fremdwort. Einziger Trost im Leben und Sterben: der Glaube.
Boccaccio erzählt in seinem «Decamerone» von ...
Eine Quarantäne der Zuversicht
Einst war Europa regelmässig mit Epidemien konfrontiert. In den Städten war Wohlstand und Hygiene ein Fremdwort. Einziger Trost im Leben und Sterben: der Glaube.
Boccaccio erzählt in seinem «Decamerone» von der Pest anno 1348. Auch Florenz wird heimgesucht. Es gibt kein anderes Thema mehr. Angst herrscht. Ratlosigkeit. Der Schwarze Tod!
Aus dieser morbiden Stimmung brechen eines Tages zehn junge Leute aus, Frauen und Männer. Sie haben die Nase voll. Ihr Leben wollen sie sich nicht von Panik, Hausarrest und Weltuntergangsgedanken diktieren und zunichtemachen lassen.
Und sie laufen davon, einige Kilometer aus der Stadt – in ein Landhaus in freier Natur. Zehn Tage lang bleiben die Leute dort – in einer freiwilligen, selbstbestimmten Quarantäne. Lassen es sich gut gehen bei Speisen, Wein und Tanz. Jeder hat jeden Tag eine Geschichte zu erfinden und zu erzählen. So kommen zehn mal zehn Geschichten zusammen, welche ihnen die Zeit vertreiben und uns, den Lesern, erzählt werden: Stories voll unbändiger Lust am Leben, mit einer frivolen Erotik, die auch vor Kirchenleuten und Sultanen keinen Halt macht.
Die zehn feiern das Leben – während in der nahen Stadt gejammert und getrauert wird.
Der Bundesrat hatte recht. Es ist ein Marathon. Und gleichzeitig: zum Davonlaufen! Es gibt Tage, da möchte ich das. Trotz herrlicher Maienzeit und langer Tage. Auf und davon. Seit über 420 Tagen dominiert dieses Virus unser Leben. Bremst es aus. Diktiert öffentliche, private und berufliche, kirchliche Agenden.
Verunsicherung und Angst bestimmen oft die öffentliche Wahrnehmung und uns. Wir sehnen uns nach der Sorglosigkeit unseres Lebens vor Corona, aus welchem wir Tod und Sterben immer mehr verdrängt haben. Dabei haben wir auch die Fragilität des Lebens aus den Augen verloren. Doch genau dieses Bewusstsein ist es, was das Leben so wertvoll macht, und ist letztlich ein Geschenk.
Obdachlosenpfarrer Ernst Sieber hat einst für ein Buch den Titel «Menschenware – wahre Menschen» verwendet: Statt wahrhaft Mensch sein zu dürfen, statt arbeiten und ruhen, feiern und schlafen, leben und sterben zu können, werden wir zunehmend verobjektiviert: als zu verwaltende «Ware Mensch». Politik und Wirtschaft interessieren sich primär für unsere Arbeits- und Konsumkraft: Gesund, langlebig, tüchtig sollen wir sein – unser Seelen- und Sozialleben aber geht bachab.
Menschen jeden Alters denken, forschen, fühlen aktuell in unserer freien Demokratie ernsthaft mit, stellen sich Fragen – und vieles infrage. Und das ist gut so. Demokratie, wir müssen das aushalten.
Es gibt Tage, da möchte ich davonlaufen. Mit lieben Menschen hinaus in den Jura, in die menschenleere Ajoie, alles zurücklassend. Mit Crémant d’Alsace, Brot und Käse, bei guter Musik und vielen Geschichten die Tage verbringen. Eine Quarantäne der Zuversicht, Lust und Liebe. Im kleinen Kreis das wahre Leben feiern. Bis alles vorüber ist.
Matthias Plattner (57) ist Pfarrer der Reformierten Kirchgemeinde Sissach-Böckten-Diepflingen-Itingen-Thürnen.