HERZBLUT
04.05.2021 GesellschaftIT-Opi
Seit Kurzem bin ich im Besitz eines Kopfhörers. Einem Hightech-Teil, dem nicht nur ich zuhören kann, es hört auch mir zu. Keine Ahnung, wie das ohne Mikrofon vor dem Mund funktioniert, aber cool – und das alles kabellos und erst noch bequem. Das ...
IT-Opi
Seit Kurzem bin ich im Besitz eines Kopfhörers. Einem Hightech-Teil, dem nicht nur ich zuhören kann, es hört auch mir zu. Keine Ahnung, wie das ohne Mikrofon vor dem Mund funktioniert, aber cool – und das alles kabellos und erst noch bequem. Das kam so: Für die virtuelle Redaktionssitzung hatte ich mal wieder meine Ohrstöpsel vom iPhone nicht zur Hand. Ein Kollege lieh mir seine Kopfhörer – das «Headset», wie er mir erklärte – aus, drückte zwei Tasten und ich war online. Eine halbe Stunde nach der Redaktionssitzung stand ich im Elektro-Fachgeschäft und besorgte mir das Wunderding. Cool.
Anmerkung: Auch ich hatte mich bei meinem Berufseinstieg glücklich geschätzt, meine Fehler nicht mehr auf der Schreibmaschine mit Tipp-Ex korrigieren zu müssen, sondern auf dem Computer auf die Delete-Taste drücken zu können. Und als später im Berufsleben die IT-Leute das erste Layout-Programm zur Gestaltung von Zeitungsseiten auf meinen Computer luden, lief ich zum Bäcker, um sie aus lauter Dankbarkeit mit Gipfeli zu überhäufen. In der Schnellbleiche für die neue Software hingen meine Augen an den Lippen der Kursleiterin, ich sog jedes ihrer Worte gierig auf und notierte emsig. Das alles war praktisch und logisch, wer Probleme mit dem Programm hatte, wandte sich fortan vertrauensvoll an mich.
Und dann überholte mich die Digitalisierung: Facebook, Instagram, Twitter, Whatsapp, Tiktok, QR-Code, papierloses Büro, Videokonferenzen, Teams! Irgendwann wünschte ich mir meine elektrische IBM-Kugelkopf zurück. Das ist meinen Arbeitskollegen nicht entgangen. Also den «Digital natives», die mit all dem neumodischen Schnickschnack aufgewachsen sind. Wenn ich also heute in meinem Büro verzweifelt winsle, sind sie flugs zur Stelle, um mit einem mitleidigen Blick und zwei Mausklicks meinen Computer heil zu machen. Und ich laufe dann wieder in Demut und Dankbarkeit zum Bäcker … – metaphorisch. Denn so viele Gipfeli verträgt kein Magen. Natürlich muss ich mich dafür aufziehen lassen. Hinter meinem Rücken nennen sie mich inzwischen den IT-Opi. Deswegen der Kopfhörer. Bluetooth (für Leidensgenossen: kabellos). Es sollte der Befreiungsschlag werden; mein Comeback in die digitale Welt.
Sollte: Skype-Redaktionssitzung am Tag danach. Es klingelt. Ich setze kühn mein brandneues Headset (ich lerne ja wieder schnell) auf und befehle dem Computer, sich mit dem Gerät zu koppeln. Einmal. Zweimal. Kein Ton kommt herein, keiner geht hinaus. Auf den Lippen meiner Kollegen auf dem Bildschirm lese ich: «Christian, bist Du da?» Ich nicke eifrig, während ich am Gerät nestle und die Maus malträtiere. Aber hören tue ich nichts. Also klaube ich die Anleitung aus dem Headset-Karton: Russisch, Niederländisch, Japanisch, Arabisch … arrrgh! Aber unter dem Dokument entdecke ich in der Schachtel etwas, das mich in die gute, alte, analoge Zeit zurückversetzt: ein Kabel! Erleichtert stöpsle ich es am Computer und am Headset ein und vernehme ein «IT-Opi» und allseitiges «Haha» und «Hoho». Ich stimme ins Gelächter ein und esse das «Dankesgipfeli» trotzig selbst.
Christian Horisberger, stv. Chefredaktor «Volksstimme»