«Es geht nicht nur um Sport»
06.05.2021 Baselbiet, Sport, Region
Sebastian Wirz
Herr Schoch, wenn ich auf der Website des Eidgenössischen Schwing- und Älplerfestes (Esaf) bei den FAQs Ihren Bereich Nachhaltigkeit anklicke, heisst es da: «Zu diesem Thema gibt es noch keine häufig gestellten Fragen.» Warum? Sebastian Wirz Herr Schoch, wenn ich auf der Website des Eidgenössischen Schwing- und Älplerfestes (Esaf) bei den FAQs Ihren Bereich Nachhaltigkeit anklicke, heisst es da: «Zu diesem Thema gibt es noch keine häufig gestellten Fragen.» Warum? Aus Sicht der Ökologie ist klar: Das nachhaltigste Esaf ist eines, das gar nicht stattfindet. Einverstanden? Wie reagieren die Schwinger in der Organisation, wenn ein grüner Ex-Landrat kommt und sagt: Das müsst ihr wegen der Nachhaltigkeit so und so machen? Das grösste Thema bei der Ökologie dürfte der CO2-Ausstoss sein. Anreise, Aufbau, Abfall – da fällt einiges an. Werden Sie die Emissionen kompensieren, wie es 2019 in Zug gemacht wurde, beim ersten «klimaneutralen» Esaf? Das ändert nichts daran, dass 400 000 Personen anreisen, konsumieren und ihren Abfall hinterlassen. Mussten Sie beim Einweggeschirr Ihre ökologischen Ideale begraben? Wo können Sie weiter im Sinn der Nachhaltigkeit eingreifen? Die grössten Auswirkungen hat das Esaf auf die Gastgebergemeinde Pratteln. Wie balancieren Sie Ihre unterschiedlichen Interessen als Fest-Organisator und Gemeinderat? Verkleinerung? Verschiebung? wis. In Zeiten von pandemiebedingen Abstandsregeln und Personenbeschränkungen ist kaum ein Anlass so undenkbar wie ein Eidgenössisches Schwing- und Älplerfest (Esaf). «Wir haben uns, bereits bevor Corona so prominent ein Thema war, mit einer möglichen Pandemie und deren Auswirkungen auf einen Grossanlass auseinandergesetzt. Wir haben verschiedene Szenarien erfasst und dazu mögliche Massnahmen ausgearbeitet», sagt Esaf-Geschäftsführer Matthias Hubeli auf Anfrage. «Wir sind absolut positiv, dass wir das Esaf Pratteln im Baselbiet in diesem Rahmen durchführen können, wie wir dies nun seit mehr als drei Jahren planen und wie man das Esaf als Anlass aus der Vergangenheit kennt.» Dennoch werde regelmässig eine Lagebeurteilung vorgenommen. Angesprochen auf eine allfällige Verkleinerung oder Verschiebung des Festes sagt Hubeli: «Wir treiben die Planung weiter voran und werden im Sommer gemeinsam mit dem Eidgenössischen Schwingerverband eine vertiefte Lagebeurteilung vornehmen und dann über das weitere Vorgehen gemeinsam entscheiden.» Zur Person
Philipp Schoch: Das dürfte damit zu tun haben, dass wir noch nicht zu sehr an die Öffentlichkeit gelangt sind. Vonseiten der Anwohner gab es bereits Fragen, ab diesen Herbst werden die Naturschutzfragen auch sichtbar werden: Es gibt erste Eingriffe in die Natur vor Ort. Davor werden wir der Öffentlichkeit aufzeigen, was bis zum und vor allem nach dem Schwingfest passiert.
Ein «Eidgenössisches» ist per se nicht nachhaltig. Wir geben für ein Wochenende rund 35 Millionen Franken aus und bauen alles auf der grünen Wiese auf. Nichts ist schon da. Wir bringen Frischwasser, Strom und Handyempfang hin und führen Abwasser ab, wir richten Bankomaten ein und verlegen Strassen, um die Arena aufbauen zu können. Am Ende werden wir aber wieder einen Acker haben. Man muss dazu stehen können, dass das aus ökologischer Sicht nicht nachhaltig ist.
Der Eidgenössische Schwingerverband ist viel weniger konservativ, als ich mir das vorgestellt hätte. Klar, der klassische Schwing-Fan ist traditionell, er braucht seine Bierflasche aus Glas in der Hand, am besten mit einem Bügel dran. Aber der Schwingerverband hat klargemacht, dass ihm Nachhaltigkeit sehr wichtig ist und ich spüre eine grosse Offenheit gegenüber den Vorschlägen des OK Esaf 2022.
Wir erwarten am Esaf-Wochenende bis zu 400 000 Personen. Unser Ziel ist es, dass dank der guten Erreichbarkeit und des Kombi-Tickets, durch das jeder Eintritt zum Esaf die Anund Abreise beinhaltet, mindestens 90 Prozent der Besuchenden mit den öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen. Das bedeutet aber immer noch, dass sehr viele Menschen mit dem Auto nach Pratteln kommen. Aber das können wir ebensowenig vermeiden wie die Tatsache, dass der Aufbau der Arena für 50 000 Personen und des Festgeländes einen grossen Energieaufwand bedeutet.
Wir werden eine CO2-Bilanz erstellen, aber die Emissionen nicht über zertifizierte globale Massnahmen kompensieren. Wir haben uns lange damit befasst und ich hatte ursprünglich ein CO2-neutrales Fest zum Ziel. Aber wir haben gelernt, dass diese Kompensation immer über Projekte im Ausland abgesichert werden. Wir werden jedoch vor Ort Wirkung erzielen und wollen der Bevölkerung in Pratteln aufzeigen, was mit dem Geld aus dem Nachhaltigkeitstopf passiert. Wir werden Bäume pflanzen, Tümpel anlegen oder analysieren aktuell eine Hecke, die dem Fest weichen muss und danach in besserer Qualität wiederhergestellt wird. Die Hecke, die Äcker – alles soll nach dem Fest besser sein als vorher. Wir wollen vor Ort mit konkreten Umweltmassnahmen eine gewisse «Kompensation» zeigen und erlebbar machen.
Die Menschen, die ans Esaf kommen, wollen ein Fest erleben, das ist eine Tatsache. Dabei entsteht Abfall. Wir können dafür sorgen, dass weniger davon anfällt und etwa mehr rezykliert wird. In den Zelten wird möglichst Mehrweggeschirr verwendet, in der Festmeile machen wir Vorgaben für die Verwendung von Einweggeschirr aus bestimmten Materialien und Empfehlungen bei der Wahl der Produkte. Es ist etwa festgeschrieben, dass beim Einkauf Schweizer Produkte Vorrang haben.
Man kann nicht einfach sagen: Es gibt nur wiederverwendbares Geschirr. Das ist nicht umzusetzen. Erstens gibt es die Waschmaschine, die ein solches Volumen von Geschirr schlucken kann, nur am Oktoberfest in München und zweitens hat sich herausgestellt, dass das Waschen in diesem Ausmass vom Wasserverbrauch und der sonstigen Logistik her nicht wirklich nachhaltiger ist. Da kommt man von der Traumwelt schnell in der Realität an, wenn man sich mit der Umsetzbarkeit beschäftigt.
Wir verstehen diesen Begriff nicht nur ökologisch. Beim Fest ist alles auf dieses eine Wochenende konzentriert. Unsere Aufgabe ist es, das Esaf sozusagen in die Länge zu ziehen und eine langfristige Wirkung zu erzielen. Eine der Erkenntnisse, die bei diesem Prozess am Anfang stand, war: Den Vereinen, die an einem Esaf beteiligt sind, geht es nicht so gut. Vom Jodler- über den Trachtenverein bis zu den Alphornbläsern gibt es Nachwuchsprobleme. Beim Esaf geht es nicht nur um Sport, sie alle sind beteiligt. «Pratteln 2022» soll ein Motor für diese Szene sein. Diese kulturelle Nachhaltigkeit hatten wir etwa im Visier, als wir den Tag der lebendigen Traditionen geschaffen haben. Die Zusammenarbeit des Organisationskomitees mit «Kulturelles.BL» ist hier eine Pioniertat für ein Esaf und die ganze Schweiz.
Ich muss mir schon immer wieder bewusst sein, dass ich mehrere Hüte trage. Aber meist ist mein Hintergrundwissen hilfreich. Ich kann im Gemeinderat Verständnis für die Anliegen des Esaf generieren und umgekehrt. Es ist wichtig, dass wir in Pratteln Rückhalt für das Fest schaffen. Die Einwohnergemeinde hat jüngst 750 000 Franken für verschiedene Massnahmen rund um das Esaf gesprochen. Die Ausgaben wären in den kommenden Jahren so oder so angefallen, aber sie konzentrieren sich nun stark auf die Zeit bis 2022. Auf die anfängliche Begeisterung ist eine Unsicherheit gefolgt, wie die Einwohnerschaft überhaupt am Esaf teilhaben kann. Schliesslich gibt es nicht einfach Tickets für alle Prattlerinnen und Prattler. Die Gemeinde, die schweizweit nicht das beste Image hat, wird stark im Schaufenster stehen. Das Esaf ist eine einmalige Geschichte und eine einmalige Gelegenheit. Ich bin überzeugt, dass es – am Rand eines der häufig kritisierten Aussenquartiere Prattelns liegend – eine positive Wirkung auf das Selbstverständnis Prattelns haben kann, wenn sich nicht nur der Schwinger und auch nicht nur der Schweizer für dieses Fest interessieren.
wis. Der ehemalige Grünen-Landrat und Landratspräsident sowie aktuelle Prattler Gemeinderat Philipp Schoch (47) ist Leiter der Stabsstelle Nachhaltigkeit im OK des Eidgenössischen Schwing- und Älplerfestes 2022 in Pratteln. Als Pflegeleiter des Notfallzentrums am Kantonsspital Baselland hat er nun auch von beruflicher Seite eine Aufgabe am «Eidgenössischen» erhalten: Er plant für das Wochenende die medizinische Notfallstation auf dem Festgelände.