Wo das Erbe erhalten und gepflegt wird
16.04.2021 Baselbiet, Energie/Umwelt, Wintersingen, LandwirtschaftAndres Klein
An einem Hang, der schon von der Morgensonne beleuchtet wird, stehen 246 ganz spezielle Niederstamm-Obstbäume in Reih und Glied. Immer zwei tragen den gleichen Namen und ihr Wuchsort ist genaustens auf einem Plan eingezeichnet. Alle diese Bäume sind entweder ...
Andres Klein
An einem Hang, der schon von der Morgensonne beleuchtet wird, stehen 246 ganz spezielle Niederstamm-Obstbäume in Reih und Glied. Immer zwei tragen den gleichen Namen und ihr Wuchsort ist genaustens auf einem Plan eingezeichnet. Alle diese Bäume sind entweder Zwetschgen- oder Kirschenbäume. Sie heissen weder Topking noch Sweetheart, sondern zum Beispiel Zweitfrühe, Rheinfallkirsche oder Löhrpflaume und Pallögeli. Aber auch Fremdsprachige sind zu entdecken, wie Prune de Wengen, Les Communances, Reineclaude d\'Oulin oder Prugno bianco.
Jeder dieser Namen gehört zu einer alten Steinobstsorte, die hier in Wintersingen als lebende Genbank stehen und wachsen darf und für künftige Generationen kultiviert wird. Offiziell heisst die Datenbank «Duplikatsammlung von alten Zwetschgen- oder alten Kirschensorten».
Diese Sammlung dient dazu, im Auftrag des Bundes pflanzengenetische Ressourcen zu sichern, zu erhalten und zu nutzen. Die Organisation, die schweizweit dafür sorgt, heisst Fructus und wird vom Bundesamt für Landwirtschaft finanziell unterstützt. «Fructus» hat in der Schweiz mehrere solcher Sortengärten für fast alle Obstsorten wie Äpfel, Birnen, Quitten, Nüsse und so weiter. Weil in Wintersingen bereits ein Steinobstzentrum mit sehr viel Wissen und Erfahrung bestand, war klar, dass ebenfalls hier eine Sortensammlung zur Sicherung der genetischen Vielfalt angelegt wurde.
Das Team vom Agroscope Steinobstzentrum Breitenhof dokumentiert und betreut nun diese Obstbäume durchs ganze Jahr. Die Bäume werden gepflegt, geschnitten und die Früchte werden geerntet und, wo ein Bedarf ist, auch vermarktet. Bei so vielen alten Kirschen-, Zwetschgen- und Pflaumensorten kommt eine sehr bunte, vielfältige Ernte zusammen. Was qualitativ den Anforderungen des Marktes entspricht, wird als Tafelobst im nähern Umfeld der Träger verwertet und der Rest zu Säften verarbeitet. Die Formen, Farben, Grössen und Konsistenzen dieser alten Sorten bilden eine breite Palette und sind leider kaum auf dem Markt zu finden, obwohl sie sich wohltuend vom Einheitsbild des normierten Früchtesortiments der Grossverteiler abheben.
Viele Sorten, viele Geschichten
Die grosse Sortenvielfalt der Vergangenheit hat damit zu tun, dass bis ins vorletzte Jahrhundert die Früchte vor allem lokal oder regional vermarktet wurden. Somit bildeten sich viele lokale Sorten, zum Beispiel die «Gelbe von Oltingen», «Kienberger», «Eikerzwetschge», «Hauszwetschge Rudin», «Basler Rotstieler» oder «Ziefner». Jede dieser Sorten hat eine eigene Geschichte, andere Eigenschaften oder andere Standortansprüche. Aber alle waren sie entweder zu krankheitsanfällig, zu wenig robust oder nie so attraktiv und anpassungsfähig, dass sie mit den Ansprüchen des Marktes mithalten konnten. Sie wurden im Lauf der Jahre von moderneren Sorten verdrängt, die rascher wachsen, grösser oder robuster sind.
Der Verein Fructus hat bis ins Jahr 2004 über 2000 alte, wenig bekannte gefährdete Obst- und Beerensorten in Sortensammlungen gesichert. Diese Sorten werden nun sukzessive beschrieben und genetisch analysiert. Dazu wurden auch Methoden entwickelt, damit die Sorten einheitlich und vergleichbar beschrieben werden können. Es ist ziemlich schwierig, zum Beispiel eine Zwetschgensorte so zu beschreiben, dass man sie von einer anderen unterscheiden kann. Das Handbuch «Obst-Deskriptoren NAP» ist 89 Seiten dick und unterscheidet zum Beispiel für die Pflaumen, inklusive Zwetschgen, mehr als 70 Eigenschaften wie Form, Grösse, Farbe, Stiellängen und Geschmack.
Der «Breitenhof» ist für die Erhaltung von rund 250 Bäumen zuständig. Für die genaue Beschreibung ist es der Verein Fructus. Für die Erhaltung der alten Sorten sind diese Duplikatsbäume auch darum wichtig, weil sich die meisten Obstsorten nicht direkt aus den Samen oder Früchte vermehren lassen. Bei den allermeisten Obstbäumen stammen die Wurzeln und der unterste Stammteil von einer anderen Sorte als der obere Teil, der die Blüten und Früchte trägt. Der untere Teil, Unterlage genannt, wird heute auf spezielle Eigenschaften wie Wuchsgeschwindigkeit und Schädlingsresistenz gezüchtet. Der obere Teil wird auf diese Unterlage gepfropft oder gezweit. Das heisst, ein Ästchen der gewünschten Sorte wird so mit der Unterlage verbunden, dass es anwächst. Dies nennt man Veredelung und die Äste heissen Edelreiser. Und genau diese Duplikatsammlungen helfen mit, solche Edelreiser zu produzieren, um dadurch immer wieder an anderen Orten mittels Veredelung die gewünschte Sorte zu erhalten oder gar zu fördern. Letztere Aufgabe wird vor allem von den Baumschulen wahrgenommen.
Geerdeter Forscher ohne Scheuklappen
Thomas Schwizer (Bild) begrüsst mich herzlich mit einem offenen Blick und hätte mich wohl in anderen Zeiten auch mit einem kräftigen Händedruck empfangen. Der Betriebsleiter des «Breitenhofs» beantwortet meine vielen Fragen gut verständlich, geht auf sie ein und schafft auch Klarheit, wenn es um Themen geht, die ich nicht so gut verstehe.
Im grossen Sitzungszimmer fällt mir zuerst sein umfassendes Praxiswissen auf. Doch auch auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Methodik und bei den betriebswirtschaftlichen Fragen weiss er zu überzeugen. Was mir gefällt: Er redet Klartext. Effizienz ist ihm wichtig. Schöne, gesunde Früchte sind eines seiner Ziele, genauso wie eine ökologisch intakte Landschaft und rentabler Früchteanbau. Er weiss, dass das ohne Kompromisse nicht geht. Darum forscht er mit modernsten synthetischen Pestiziden, mit neusten Maschinen, mit bewährten und neuartigen Methoden und mit Nützlingen und andern Anwendungen im Biolandbau. Er sagt auch, dass keine einzige ideologische Bekämpfung zu Erfolgen führe, sondern nur die Kombination von verschiedensten Massnahmen den optimalen Ertrag bringen.
Thomas Schwizer ist auf einem Bauernhof am Walensee aufgewachsen, hat Landwirt gelernt und sich nachher in Wädenswil zum Obstbauingenieur ausbilden lassen. Nach verschiedenen Aufgaben im Ausland in der Landwirtschaft und in Baumschulen hat er sich 1997 um die Stelle im «Breitenhof» erfolgreich beworben. Dort schätzt er die vielfältige Arbeit und geniesst die relative Unabhängigkeit als Betriebsleiter.
Geht man dann mit Thomas Schwizer nach draussen in die Anlagen, merkt man sofort, dass er «seine» Bäume gern hat. Er sagt auch, dass ihn Bäume ruhig machen, vor allem, wenn es hektisch zugeht. Dann macht er gerne Handarbeit im Freien. Für ihn sind Bäume «unheimlich komplexe Lebewesen und absolute Individualisten». Kein Baum ist wie der andere. Bäume können kompensieren, etwas anderes tun und miteinander kommunizieren. Die Forschung hilft ihm, genau hinzuschauen und gut zu beobachten. Auf der kurzen Besichtigung war das offensichtlich. Da wies er auf ein kleines Detail hin und dort zeigte er, welche der vielen Wildbienenarten wo gedeihen, was sie brauchen und gleich auch noch, wie sie wissenschaftlich genannt werden. Und zum Abschluss bekräftigte er, komplexe Situationen, wie sie heute im Steinobstbau herrschen, können nur gelöst werden, wenn Ökologie und Ökonomie Hand in Hand gehen.
Andres Klein