Autor, Aufklärer, Liberaler und – Lausner
09.04.2021 Bildung, Kultur, Lausen, Gesellschaft, SchweizJürg Gohl
«Heinrich Zschokke und neun weiteren verdienten Kämpfern für die Gründung des Freistaates» soll das Bürgerrecht des Kantons Baselland, der sich ein Jahr zuvor verselbstständigt hat, zugesprochen werden. Das fordert der Baselbieter Landrat am 4. ...
Jürg Gohl
«Heinrich Zschokke und neun weiteren verdienten Kämpfern für die Gründung des Freistaates» soll das Bürgerrecht des Kantons Baselland, der sich ein Jahr zuvor verselbstständigt hat, zugesprochen werden. Das fordert der Baselbieter Landrat am 4. März 1833, wie in der Heimatkunde von Lausen aus dem Jahr 1997 nachzulesen ist. Dem Begehren kommt die Regierung gerne nach, muss davor aber ein kleines Problem lösen: Zschokke benötigt dazu noch einen Bürgerort. So meldet sich die Regierung anderntags in Lausen und einen Monat später besitzen Zschokke und sein Sohn Emil Jakob Friedrich das Lausner Bürgerrecht.
Lausen ist damit der vierte Bürgerort von Heinrich Zschokke, der mit vollem Vorname Johann Heinrich Daniel heisst. Eingebürgert wird er zuvor schon in Malans (GR, 1798), Ueken (AG, 1804) und Aarau (1823). Dazu ist er noch Bürger von Magdeburg. Dort kommt er als Kind eines Tuchmachers am 22. März 1771, also vor 250 Jahren, zur Welt. Mit acht Jahren ist er Vollwaise, und nur zehn Jahre später, am 14. Juli 1789, bricht auf der Place de la Bastille unweit des heutigen «Schweizer» Gare de Lyon die Französische Revolution aus (eine der ganz wenigen Jahreszahlen der Weltgeschichte, die ins Hirn gemeisselt gehört).
Dieses historische Ereignis veranlasst ihn, den jungen Theaterdichter und Doktor der Theologie, die Enge seiner preussischen Heimat zu verlassen, zumal dem damals 21-Jährigen in seiner Heimat die Professorenwürde verweigert wird. Der Lutheraner beschliesst, die junge Schweiz und dieses aufrührerische Frankreich zu bereisen.
Anders als bei Herwegh
Damit steht er im Gegensatz etwa zum 46 Jahre jüngeren deutschen Dichter Georg Herwegh, der heute in Liestal begraben liegt und an den im Kantonshauptort auch ein Denkmal erinnert: Zschokke verlässt seine Heimat aus freien Stücken. Herwegh – wie erst recht seine noch radikalere, Männerkleider tragende Frau Emma – war ein «Linker», der in vielen Zitaten Karl Marx vorwegnahm. Doch auch für Zschokke gilt: Er ist bei all seinen Verdiensten im politischen Feld sowie in der Geschichts- und Naturforschung zuerst ein grosser und einer der meistgelesenen Dichter seiner Zeit, seine «gesammelten Schriften» umfassen 35 Bände und 5800 seiner Briefe sind erhalten (siehe Kasten).
Seine Einbürgerungen im Bündnerland und im Aargau verdient sich der erklärte Anhänger der revolutionär gesinnten Patrioten mit seinem vielfältigen Wirken. Erst leitet er in Reichenau eine Erziehungsanstalt nach den Grundsätzen seines Freundes Johann Heinrich Pestalozzi, im Aargau arbeitet er an einem fortschrittlichen Schulgesetz und sitzt im Grossen Rat. «Es war damals eine Menge los», heisst es in einem Beitrag der «Aargauer Zeitung» vom 20. März salopp über jene wirre Zeit, in welcher Napoleon bei den Eidgenossen ordnend eingreifen muss. Zschokke strebt danach, in der Schweiz zu verwirklichen, was in Frankreich letztlich missraten war: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Ein klassischer Aufklärer
Zschokke, ein Aufklärer par excellence und Anwalt des Volks, leitet in der Helvetischen Republik das Büro für Nationalkultur und ebnet auch den Weg für die Bundesverfassung von 1848. Diese Jahreszahl steht nicht nur für den grössten Wendepunkt in der Schweizer Geschichte (deshalb ebenfalls einmeisseln), sondern es handelt sich auch um sein Todesjahr. Er gründet Zeitschriften und arbeitet als Redaktor. Sein Sohn Julius – Zschokke senior hat zwölf Söhne und eine Tochter – verantwortet später fünf Jahre lang das «Basellandschaftliche Wochenblatt».
Der Lausner Bürger trägt damit zu zwei wesentlichen Errungenschaften bei: Er setzte in der Schweiz als Erster die eben errungene Pressefreiheit in die Tat um. Zudem bemühte er sich, Zeitungsinhalte auch der breiten Bevölkerungsschicht zu vermitteln.
«Zschokke verstand es, mit seinem ‹Schweizerboten› vor allem die ländliche Bevölkerung anzusprechen. Er erteilte Ratschläge und duzte die Leute», schreibt Roger Blum, der frühere Medienprofessor aus Liestal, in der «Basellandschaftlichen Zeitung» am 22. März dieses Jahres, also an Zschokkes 250. Geburtstag. Und er ergänzt mit einem Augenzwinkern in Richtung des heutigen Journalismus: «Er beherrschte das Storytelling.»
Noch prägnanter formuliert es Werner Ort in seiner umfassenden Zschokke-Biografie von 2013: Er habe «politischen Boulevard» gemacht. Ort ergänzt, der «Schweizerbote» sei «witzig, schlagfertig und anschaulich geschrieben, unaufdringlich belehrend und gemütvoll unterhaltend» gewesen. Die Pressefreiheit indes wird im Rahmen historischer Gegenbewegungen zwischenzeitlich wieder abgeschafft und setzt sich 1830 definitiv durch. Das wiederum führt dazu, dass im neuen Kanton Baselland 1832 mit dem «Unerschrockenen Rauracher» die erste Zeitung entsteht.
Mittler zwischen Land und Stadt
In einer Zeit voller regionaler Wirren setzt sich Zschokke auch immer wieder als Vermittler ein. So auch im Kanton Basel, wie er noch heisst. Dort wird er bereits 1800 kurz Regierungsstatthalter und muss gleich zu Beginn den «Bodenzinssturm» beilegen, mit dem sich das Oberbaselbiet gegen Steuern auflehnt. 30 Jahre später vermittelt er in den Trennungswirren zwischen Stadt und Land, was zu seinem Lausner Bürgerrecht führt, ohne einen näheren Bezug zur Gemeinde zu besitzen.
Diesen stellt erst der miteingebürgerte Sohn Emil her. Weil infolge der Kantonstrennung viele Basel-freundliche Pfarrherren auf dem Land vertrieben werden und es plötzlich an Geistlichen mangelt, tritt Sohn Emil 1833 in Lausen die Stelle als Pfarrer an, wird dort auch politisch aktiv und versieht das Pfarramt bis 1842.
Dank Zschokke zerbrach der Krug
jg. Lassen wir mal die beiden ganz Grossen, Goethe und Schiller, beiseite, so zählt «Der zerbrochene Krug», das Lustspiel von Heinrich von Kleist, zu den herausragenden Dramen der deutschen Literatur. Indirekt hat auch Heinrich Zschokke einen Beitrag zum Entstehen dieses Werks geleistet. In Bern stand er gemeinsam mit Kleist und Ludwig Wieland, einem weiteren Dichter, vor dem Kupferstich eines französischen Künstlers, einem Werk namens «Der zerbrochene Krug». Das Trio einigte sich auf einen Wettstreit: Wieland schreibe eine Satire, Zschokke eine Novelle und Kleist eine Komödie zu diesem Sujet. Andere Quellen beschränken sich auf einen Zweikampf ohne Wieland. Kleist siegte.
Zschokke zählte zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. So verwundert es nicht, dass zu seiner Hochzeit Johann Peter Hebel eigens ein Festgedicht verfasste und vortrug. Und kein Geringerer als Goethe stellte Zschokkes Dramen auf eine Stufe mit jenen Schillers. Der Lausner erzielte damals sogar höhere Auflagen als die beiden Dichterfürsten.
Lausen lässt Aarau den Vortritt
jg. Die Gemeinde Lausen sieht davon ab, in diesem Jahr den 250. Geburtstag ihres bedeutendsten Bürgers besonders zu feiern. Gemeindepräsident Peter Aerni begründet den Verzicht damit, dass Heinrich Zschokke für Baselland wohl sehr viel, für den Kanton Aargau aber noch weit mehr geleistet habe und dort deshalb ungleich bekannter sei. Vielen Lausnern sei, so Aerni, gar nicht bewusst, dass sie über einen so grossen Bürger verfügen. «Aber natürlich sind wir in Lausen sehr stolz darauf, einen solchen Bürger zu haben», antwortet er. Das Feiern wird damit ganz der Stadt Aarau überlassen. Denn kein Kanton in der Schweiz profitierte so stark von Heinrich Zschokkes staatspolitischen Leistungen wie der Kanton Aargau, wo es seit dem Jahr 2000 eine Heinrich-Zschokke-Gesellschaft gibt. Für dieses Jahr sind in Aarau diverse Vorträge, Ausstellungen und Wanderungen geplant, ebenso ein Film, zu dessen Aufnahme sich 200 Schweizer Zschokke-Nachkommen vergangenen November in Aarau trafen. Für alle, die weniger wissensdurstig sind, gibt es sogar ein Zschokke-Bier.
«Ihr ergebener Mitbürger»
Heimatkunde lobt Einsatz für Landvolk
jg. Als die Lausner Gemeindeversammlung Heinrich Zschokke und dessen Sohn Emil das Bürgerrecht verlieh, lebte Vater Zschokke in Aarau. Emil hingegen wirkte damals bereits in Lausen als Pfarrer. Postwendend bedankte sich der berühmte Vater in einem Brief an den «löblichen Gemeinderat». Er habe die Nachricht «mit ebenso grosser Überraschung als Rührung» vernommen, schreibt er, um sogleich politisch zu werden: «Eine Gabe wie diese gilt dem Republikaner, was dem Angehörigen einer Monarchie ein Königliches Ordenszeichen.» Er unterzeichnet das Schreiben mit «Ihrem ergebenen Mitbürger Heinrich Zschocke».
Nachzulesen ist das in der ersten Lausner Heimatkunde. Sie erschien im Jahr 1963 und damit rund 100 Jahre später als der Erstling vieler anderer Baselbieter Gemeinden. Zschokke wurde vor 58 Jahren weit mehr Platz eingeräumt als in der neuen Ausgabe von 1997, obschon diese gesamthaft weit umfassender ausfiel. Neben Zschokkes literarischen Leistungen wird damals, in einer Zeit, als Wiedervereinigungsgelüste erwachten, auch auf seine Verdienste in den Basler Trennungswirren verwiesen: «Wie hätte es anders sein können, als dass dieser glühende Vertreter des Volkes sich der Sache des unterdrückten, um seine Freiheit ringenden Landvolkes des Kantons Basel annahm?»