«Manche tun nicht mehr als unbedingt nötig»
30.04.2021 Baselbiet, RegionGewerkschafter Marco Geu über den Schutz von Arbeitnehmenden in der Pandemie
In den Strassen von Basel und Liestal wird morgen der 1. Mai begangen. Umstritten ist, ob es in Zeiten der Pandemie nicht eher solidarisch wäre, den Demos fernzubleiben. Gewerkschafter Marco Geu über Sorgen und ...
Gewerkschafter Marco Geu über den Schutz von Arbeitnehmenden in der Pandemie
In den Strassen von Basel und Liestal wird morgen der 1. Mai begangen. Umstritten ist, ob es in Zeiten der Pandemie nicht eher solidarisch wäre, den Demos fernzubleiben. Gewerkschafter Marco Geu über Sorgen und Enttäuschungen des Pflegepersonals.
Sebastian Schanzer
Herr Geu, Sie sind in der Syna-Zentrale für den Detailhandel und das Gesundheitswesen zuständig. Haben Sie seit den ersten getroffenen Massnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 einen Mitgliederzulauf erfahren?
Marco Geu: Wir haben sicherlich mehr Beratungsgespräche geführt und die Probleme der Menschen waren teils existenziell. Wir konnten aber nicht gross Kapital aus dieser Situation schlagen, gerade weil viele Arbeitnehmende durch die Pandemie wirtschaftlich stark in Bedrängnis geraten sind. Menschen, die unsere Hilfe benötigen würden, können sich eine Mitgliedschaft oftmals bereits nicht mehr leisten. Zudem wird die Krise nicht als politische wahrgenommen.
Gibt es im Zusammenhang mit der Pandemie Bestimmungen von Bund oder Kantonen, die arbeitsrechtlich fragwürdig waren oder sind?
Es gab den einen grossen Sündenfall: die Aussetzung des Arbeitsgesetzes im Gesundheitswesen vom Frühling 2020. Das Arbeitsgesetz ist das einzige Gesetz in der Schweiz, das regelt, wie lange man arbeiten darf, ohne krank zu werden. Diese letzte Hürde hatte man beseitigt. Die Aussage lautete: Komme was wolle, ihr krampft jetzt einfach bis zum Umfallen! Das hat das Gesundheitspersonal tief getroffen. Im Detailhandel war insbesondere der Schutz der Risikogruppe ein Thema. Der Staat hat sich nicht schützend vor die betroffenen Arbeitnehmenden gestellt, sondern sie als Kanonenfutter behandelt, indem er sie mehr oder weniger zum Arbeiten vor Ort zwang.
Gesundheitswesen und Detailhandel sind beides Branchen, in denen Homeoffice keine besondere Rolle spielt. Wie halten es denn die Arbeitgeber mit dem Gesundheitsschutz ihrer Angestellten?
Am Anfang hatten wir grosse Schwierigkeiten wegen des fehlenden Schutzmaterials. Keine Masken, keine Plexiglasscheiben, kein Desinfektionsmittel − wir wurden alle von der Pandemie überrumpelt. Gewisse Arbeitgeber haben sich dann ins Zeug gelegt, andere weniger. Wir mussten immer wieder Druck aufsetzen, damit etwas passiert. Zum Teil wurden wir von kantonalen Behörden dabei unterstützt. Es gab aber auch Kantone, die gar nichts taten. Das muss man so einfach sagen. Auch im Gesundheitswesen gab es anfangs teils Mangel an Schutzmaterialien. Insbesondere Alters- und Pflegeheime und Spitex-Organisationen waren davon betroffen und sind es teils heute noch. Auch hier stellen wir fest: Es gibt Arbeitgeber, die nicht mehr tun als unbedingt nötig und andere, die sich stark einsetzen.
Mangel an Fachkräften, niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen: Die Pandemie hat bestehende Probleme im Gesundheitswesen verschärft, aber auch verdeutlicht. Wie nutzen Sie als Gewerkschaft dieses Fahrwasser?
Wir müssen in erster Linie nach wie vor Aufklärungsarbeit leisten. Ich habe den Eindruck, dass diese Botschaft noch nicht bei der ganzen Bevölkerung angekommen ist. Die Verschränkung der Gesundheitskosten mit dem eigenen Portemonnaie ist in dieser Hinsicht natürlich hinderlich. Viele Menschen sind schlichtweg der Meinung, dass bessere Arbeitsbedingungen für das Gesundheitspersonal auch höhere Kosten nach sich ziehen und darum abzulehnen sind. Eine weitere Baustelle haben wir bei der Mobilisierung des Gesundheitspersonals im gewerkschaftlichen Sinn. Die meisten Angestellten kommen aus einem ehemaligen öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis und sind von der arbeitskämpferischen Organisation her noch nicht in der Privatwirtschaft angekommen. Bei den meisten mündet der Protest gegen schlechte Arbeitsbedingungen einfach darin, dass sie sagen: «Aadie Danke.»
Die Kurzarbeitsentschädigungen bewahren in dieser Lage viele Betriebe vor Entlassungen. Stellen Sie dennoch eine Zunahme in den vergangenen 14 Monaten fest?
Nein, das Mittel der Kurzarbeit hat sich bewährt und es ist auch richtig, dass man es so extensiv genutzt hat. Die Herausforderung wird es nun sein, geordnet wieder aus der Kurzarbeit herauszukommen. Man muss dafür sorgen, dass Arbeitnehmende eine gute Perspektive haben, wenn die Kurzarbeit aufgehoben wird. Sonst wird es sicherlich noch zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit nach der Pandemie kommen.
Seit Bestehen der Pandemie werden immer wieder Wirtschaft und Gesundheit gegeneinander ausgespielt. Wo stehen Sie in dieser Diskussion?
Im Zweifelsfall hat für uns die Gesundheit Vorrang. Die Spitäler und das Pflegepersonal sind die Achillesferse in der Pandemie. Wenn diese nicht mehr handlungsfähig sind, gerät sie ausser Kontrolle. Und dann steht auch die Wirtschaft still. Aber wir sind da durchaus in einer Zwickmühle. Die Gastronomie zum Beispiel hat legitime Interessen an Öffnungen, das Gesundheitswesen legitime Interessen an Vorsicht. Unsere Herausforderung ist es, allen gerecht zu werden. Das gelingt im Moment nur, indem Öffnungen zaghaft erfolgen und jenen, die deswegen nicht arbeiten können, mit Abfederungsmassnahmen geholfen wird.
Anders als 2020 finden am Samstag trotz Corona 1.-Mai-Demos in Liestal und Basel statt. Ist die Durchführung unter den Gewerkschaften umstritten? Immerhin könnte sie zu mehr Ansteckungen und einer weiteren Belastung des Pflegepersonals führen.
Diese Frage ist tatsächlich umstritten. Es kann ja gerade ein Akt der Solidarität gegenüber dem Gesundheitspersonal sein, nicht an eine Demo zu gehen. Solche Stimmen gibt es. Der 1. Mai lebt aber von der Öffentlichkeit und ich bin der Meinung, unter Einhaltung der entsprechenden Schutzmassnahmen ist eine Teilnahme vertretbar. Die Gewerkschaftsbewegung geht verantwortungsvoll mit diesem Risiko um.
Zur Person
vs. Marco Geu ist Fachbereichsleiter für den Detailhandel und das Gesundheitswesen bei der Gewerkschaft Syna. Aufgewachsen in Rickenbach, wohnt er heute im Kleinbasel. Er studierte in Basel und Zürich Geschichte und arbeitet derzeit in seinem Fachgebiet am Doktor-Titel an der Uni Bern.
Den meisten «Volksstimme»-Leserinnen und -Lesern dürfte Marco Geus Name aber vertraut sein, weil er in Rickenbach mit 25 zum jüngsten Gemeindepräsidenten des Baselbiets gewählt wurde. Dem Gemeinderat gehörte er acht Jahre an. Auf kantonaler Ebene sass er fünf Jahre lang in der Arbeitsgemeinschaft zur Herausgabe von Baselbieter Heimatkunden und präsidierte bis 2020 während dreier Jahre die Fachkommission Baselbieter Heimatbuch.