HERZBLUT
23.02.2021 GesellschaftBeim Sprachzahnarzt
So. Jetzt gibt es für jedes «So» ein Strichli. Eben sind wir heimgekehrt. Die beste Ehefrau der Welt, um Kolumnenkönig Kishon abzukupfern, spult ihr Ritual ab: Schuhe und Jacke aus und wegräumen, Hände waschen, ...
Beim Sprachzahnarzt
So. Jetzt gibt es für jedes «So» ein Strichli. Eben sind wir heimgekehrt. Die beste Ehefrau der Welt, um Kolumnenkönig Kishon abzukupfern, spult ihr Ritual ab: Schuhe und Jacke aus und wegräumen, Hände waschen, desinfizieren, Post verlesen, Desinfektionsmittel dem besten Ehemann des Haushalts reichen. Dieser sitzt noch immer da, pellt sich aus dem Fusskleid, hängt die Jacke auf und Gedanken nach.
Es ist vergleichbar mit einem Piloten, der vor dem Start seine Checkliste durchgeht. Während er nach jedem Kontrollgriff ein «O.K.» in sein Mikrofon näselt, wird bei uns auch alles, was auf der imaginären Checkliste steht, mit zwei Buchstaben quittiert. Mit einem «So» nach jedem Handgriff. Mag sein, dass Frauen dieses «So» so oft äussern, weil sie einfach etwas multitaskeriger unterwegs sind als das hier schwächelnde starke Geschlecht. Ein Kind im linken Arm döggeln sie mit der Rechten einen Code in den Computer ein, blättern zwischendurch in der Zeitung und buchen auf dem daneben liegenden Telefon über Lautsprecher husch die Ferienwohnung.
So, jetzt sind wir so was von abgeglitten. Das Wörtchen, das nur aus zwei Buchstaben besteht, ist eine sprachliche Allzweckwaffe. So können wir «so» beispielsweise anstelle von «zum Beispiel» einsetzen. Meine Freundin Helene wendet es so oft anstelle von «sehr» an. Bei ihr ist alles so schön, so intelligent, so schade. Dabei betont sie ihr «So» so sehr und zieht es sooo in die Länge. Sodann kann «so» «dann» ersetzen: Geschlossen, so gehen wir nach Hause. Und wie antwortete meine Klavierlehrerin, wenn ich im Sport schon wieder den Finger verstauchte und nicht üben konnte: Statt Händel gab es ein «So, so».
«So» sagt so vieles und gleichwohl nichts. Ein ideales Füllwort, wenn es nur etwas länger wäre. In jeder Rede, jedem Zeitungstext und sogar beim Plaudern bauen wir im Tag mehr Füllungen ein als ein Zahnarzt im ganzen Leben. «An und für sich» etwa ist eine überflüssige Wendung – an und für sich. Kürzlich hörte ich die Rede eines aktiven Nationalrats, der bei Lichte betrachtet eigentlich (bemerkt?) mangels Bisons zum Aufsetzen von Kuhhörnern und zum Sturm aufs Schweizer Kapitol aufruft. Auffallend oft baut er ein «meine verehrten Damen und Herren» ein, offensichtlich, um seine Gedankengänge zu ordnen. Füllwendungen bringen Zeitgewinn.
Und Zeichengewinn. Ein Redaktor verbringt viel Zeit damit, Texte zu verlängern. Dann greift er in die Kiste mit den «an und für sich», «selbstverständlich», «eigentlich», «wie der Regierungsrat in seiner gestrigen Mitteilung mitteilt». Ein Füllhorn an Überflüssigem. Mein Liebling ist englischer Sprache und lautet «as a matter of fact». Es heisst auf Deutsch «tatsächlich» oder genauer – nichts. Als Student musste ich einen Aufsatz mit 800 Wörtern verfassen, verpasste dieses Ziel im ersten Anlauf aber kläglich. Also neues Papier in die Hermes, ein paar Fakten und ganz viele «as a matter of fact» (fünf Wörter) einbauen und fertig. Damit sind auch die 3000 Zeichen erreicht, die es für eine Kolumne braucht. So.
Jürg Gohl, Autor «Volksstimme»