«Das Sportlerherz blutet»
16.02.2021 Baselbiet, SportSebastian Wirz
Herr Senn, im Sommer sagten Sie im Interview mit der «Volksstimme», eine Absage der Kunstturn-Europameisterschaft in Basel wäre emotional eine Tragödie. Nun findet die EM statt, aber ohne Zuschauer, was Sie als Wettkampfchef gar nicht in Betracht ...
Sebastian Wirz
Herr Senn, im Sommer sagten Sie im Interview mit der «Volksstimme», eine Absage der Kunstturn-Europameisterschaft in Basel wäre emotional eine Tragödie. Nun findet die EM statt, aber ohne Zuschauer, was Sie als Wettkampfchef gar nicht in Betracht ziehen wollten. Wie steht es um Ihre Gemütslage?
Emanuel Senn: Eine Tragödie ist es nicht, weil wir die EM durchführen können, aber gut ist mein Gefühl auch nicht gerade. Das Sportlerherz blutet. Gerade aus Schweizer Sicht: Was die heimischen Turnerinnen und Turner hier hätten erleben können, wäre mit Zuschauern riesig gewesen. Ich nehme aber gleichzeitig wahr, dass sich der Anspruch der Athletinnen und Athleten geändert hat. Nach einem ganzen Jahr, in dem fast keine Wettkämpfe stattgefunden haben, sind sie froh, werden die Europameisterschaften überhaupt durchgeführt.
Die Anmeldezahlen bestätigen Ihren Eindruck. Die mehr als 320 Athletinnen und Athleten aus über 40 Nationen sind noch mehr, als Sie erwartet haben.
Ja, das ist erfreulich. Wir haben uns auf eine EM auf höchstem Niveau eingestellt, da sie der letzte Formtest vor den verschobenen Olympischen Spielen in Tokio ist. Das bekommen wir nun auch tatsächlich. Eine Art «B-Anlass», für den sich nur die zweite und dritte Garde anmeldet, wäre für mich aus sportlicher Sicht das Worst-Case-Szenario gewesen.
Hat das Organisationskomitee je ins Auge gefasst, die EM ausfallen zu lassen und sich für eine der kommenden Austragungen zu bewerben?
Der internationale Wettkampfplan ist sehr eng getaktet, so war eine Verschiebung schnell vom Tisch. Die kommenden Meisterschaften sind bereits vergeben. Entsprechend gab es eigentlich nur eine Alternative zur jetzigen, die wir diskutieren mussten: Ende Jahr wurde bei mir die Angst vor einer Absage immer grösser. Nun ist der Entscheid zugunsten der EM ohne Zuschauer gefallen und wir können uns darauf vorbereiten. Irgendwann kann man nicht mehr zweigleisig mit und ohne Zuschauer planen.
Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf Ihren Bereich als Wettkampfchef?
Die Covid-Auflagen der Kantone und des europäischen Verbands bedeuten eine riesige Arbeit. Zu grossen Themen wie Tests, Einreisen und so weiter kommt für mich die Planung des «Field of Play», also des Wettkampfplatzes in der Halle. Da geht es zum Beispiel darum, dass ich nicht mehr vier Kampfrichter an einen langen Tisch setzen darf, sondern alle Einzelpulte brauchen und der vorgeschriebene Abstand eingehalten werden muss. Diese Pulte müssen wir zuerst noch besorgen. Das ist jetzt keine riesige Hürde, aber das Beispiel zeigt: Wir müssen überall alles anpassen und dann schauen, wie wir auf dem «Field of Play» noch Platz haben.
Als einziger ehemaliger Kunstturner im OK vertreten Sie auch die Sicht der Teilnehmer. Ihr Ziel war es, den Athleten in der St.-Jakobshalle ein Erlebnis zu bescheren, das sie nicht mehr vergessen. Wie wollen Sie das nun bewerkstelligen?
Für die Athleten fällt ja nicht nur der Auftritt vor einer vollen Halle weg, auch andere Annehmlichkeiten wie das übliche Bankett oder der enge Austausch in der Turnerfamilie, an den man sich gerne erinnert, sind nicht möglich. Es liegt mir also am Herzen, ein tolles Ambiente für die Athleten zu schaffen, zumindest da, wo ich es beeinflussen kann. Die Eindrücke ihres Auftritts sollen auch ohne Zuschauer im Gedächtnis der Athleten bleiben. Entsprechend behalten wir zum Beispiel die geplante Beleuchtung bei.
Apropos Beleuchtung: Die Fernsehtauglichkeit ist bei jedem Grossanlass wichtig. Wird das Fernsehbild an dieser EM, die man nicht vor Ort verfolgen kann, noch wichtiger?
Es ist unser Fenster nach draussen und wir wollen darin investieren, dass die Wettkämpfe toll aufbereitet werden. Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass ein einzelner kleiner Turner in einer grossen, leeren Halle seine Übung absolviert und dann wieder abgeht. Üblicherweise versucht man die Kamerapositionen so zu bestimmen, dass hinter dem oder der Turnenden beispielsweise eine gut gefüllte Tribüne zu sehen ist. Die Herausforderung ist, dass da im Hintergrund nun nicht ein grosses Loch klafft. Wir werden mit Abdeckungen, Bannern, Folien und so weiter operieren.
Für den Zuschauer wirkt die Halle so nicht leblos und leer, aber der Turner, der gerade seinen Abgang vom Barren mit Salto und Schraube gelandet hat, steht immer noch in einer leeren Halle.
Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, das zu ändern. Wir schauen uns bei allen möglichen Sportanlässen um, wie wir Publikumsreaktionen in die Halle bringen und dem Athleten damit eine Art Feedback geben können. Im Ski-Weltcup hat man bereits Leinwände gesehen, auf denen Bekannte der Athleten beim Jubeln zu sehen waren.
Als die amerikanische Basketball-Liga im Frühling ihre Geisterspiele austrug, wurden extra entsprechende Hallen eingerichtet. Die ganze Seitenlinie wurde zur riesigen Leinwand mit zahlreichen Animationen.
Wir hatten ja eine 18 Meter lange LED-Wand vorgesehen, die nicht zuletzt auf die Athleten wirken sollte. Diese werden wir nun etwas verkleinern. Denn man muss bedenken: Das verursacht alles Kosten. Und je grösser die Lösung, desto höher die Kosten. Wir müssen zuerst unsere Hausaufgaben rund um die Covid-Auflagen machen, bevor wir uns zu sehr mit der Aussenwirkung beschäftigen.
Kann das Budget, das für die Zuschauerränge eingeplant war, auf dem «Field of Play» eingesetzt werden?
Es gibt zwar Einsparungen, weil keine Zuschauer zu den Wettkämpfen kommen, aber dadurch haben wir ja auch kaum Einnahmen. Das sorgt für ein grosses Defizit. Durch das Entgegenkommen des internationalen Verbands, des Schweizerischen Turnverbands und der Stadt Basel sowie dank der Stabilisierungspakete des Bunds können die fehlenden Zuschauereinnahmen zwar kompensiert werden. In meinen Augen bleibt dem Organisationskomitee aber eine immense finanzielle Verantwortung: Es handelt sich nicht zuletzt um Steuergelder. Und mit diesen gilt es verantwortungsvoll umzugehen. Wir schauen uns also um, wie wir die Wettkämpfe für die Teilnehmenden und das Publikum attraktiv machen können, am Ende müssen die Ideen aber auch umzusetzen und zu finanzieren sein.
Als Leiter Leistungssport am Nordwestschweizerischen Kunstturnund Trampolinzentrum Liestal haben Sie sich eine nachhaltige Wirkung der EM in der Region gewünscht. Auch da müssen Sie wohl Abstriche machen.
Es wird sicher nicht dieselbe Wirkung auf die Kinder in der Region haben, wenn sie die Wettkämpfe nur am TV sehen, statt in der Halle vor Ort zu sein. Ich bin aber froh um den Entscheid des OKs, dass die geplanten Aktivitäten etwa in den Schulen weiterhin vorgesehen sind. Es soll Turnstundenbesuche durch Athletinnen und Athleten geben, wir müssen sie einfach an die jeweiligen Covid-Massnahmen anpassen. Ich hoffe weiterhin, dass diese EM etwas Positives für das Kunstturnen in der Region bewirkt. Im Zentrum steht aber nun als Erstes die Durchführbarkeit der Europameisterschaft an sich.
Kunstturn-EM ohne Zuschauer
wis. Vom 21. bis 25. April findet die Kunstturn-Europameisterschaft in der Basler St.-Jakobshalle statt. Aufgrund der Corona-Pandemie werden die Wettkämpfe ohne Zuschauer durchgeführt, wie die Organisatoren vergangene Woche mitgeteilt haben. Der Liestaler Emanuel Senn, selber ehemaliger Spitzenturner und aktueller Leiter Leistungssport beim Nordwestschweizerischen Kunstturn- und Trampolinzentrum in Liestal ist im OK für die Wettkämpfe und die Infrastruktur zuständig.