«Die Stimmung ist aggressiver geworden»
08.01.2021 Baselbiet, Polizei, GemeindenAdolfo Chiovarelli kontrolliert seit Neuem das Einhalten von Schutzkonzepten und Abstandsregeln
Wo es Regeln gibt, muss auch Kontrolle sein. Das wird gerade in Zeiten der Pandemie offensichtlich. Adolfo Chiovarelli, Chef einer Security-Firma, erzählt von einem aussergewöhnlichen Jahr und ...
Adolfo Chiovarelli kontrolliert seit Neuem das Einhalten von Schutzkonzepten und Abstandsregeln
Wo es Regeln gibt, muss auch Kontrolle sein. Das wird gerade in Zeiten der Pandemie offensichtlich. Adolfo Chiovarelli, Chef einer Security-Firma, erzählt von einem aussergewöhnlichen Jahr und davon, wie er täglich den Puls der Bevölkerung spürt.
Sebastian Schanzer
Sprayereien am Schulhaus, ein verunstalteter Tischtennistisch, zerschellte Eier an Gebäuden, immer wieder zerstörte Scheiben beim Bushäuschen: Es steht gerade schlecht um die öffentliche Ordnung in Seltisberg. Vor sechs Jahren hat der Gemeinderat das «Ämtchen» Ruhe und Ordnung infolge einer Gesetzesänderung von der Polizei übernommen. Seither reichen sich die Gemeinderätinnen und -räte das Pikett-Handy weiter, um bei Störungsmeldungen oder entlaufenen Hunden auszurücken – morgens, mittags, abends, nachts. In den vergangenen Monaten hat sich dieses «Ämtchen» zu einem regelrechten Amt für den Gemeinderat entwickelt.
Die Aufgabe sei immer umfangreicher und zeitintensiver geworden, der Gemeinderat habe diese Funktion teilweise nicht mehr erfüllen können, heisst es im aktuellen Anzeiger. Deshalb delegiert die Gemeinde die Wahrung von Ruhe und Ordnung zumindest an Wochenenden und ausserhalb der Bürozeiten wieder an die Baselbieter Polizei. Das kostet die Gemeinde 4 Franken pro Einwohner und Jahr.
«Hat nichts mit Corona zu tun»
Ist es Zufall, dass dies gerade in Zeiten der Pandemie geschieht? Vandalismus oder Streitereien unter Nachbarn als Ventil bei angespannten Verhältnissen in der Familie oder bei allgemeinem Corona-Verdruss? «Nein», sagt Seltisbergs Gemeindepräsidentin Michaela Schmidlin, «wir wissen zwar nicht, wer die Taten aus welchem Grund verübt hat. Aber alles auf die Pandemie zurückzuführen wäre falsch.» Auch Matthias Gysin, Geschäftsführer des Verbands Basellandschaftlicher Gemeinden (VBLG) ist kein coronabedingter Anstieg von Problemen im Bereich Ruhe und Ordnung bei den Gemeinden bekannt.
Neben Seltisberg sind im vergangenen Jahr auch die Gemeinden Rünenberg und Grellingen neu eine Leistungsvereinbarung mit der Polizei im Bereich Ruhe und Ordnung eingegangen. Rünenbergs Präsident Thomas Zumbrunn winkt ab: «Wir erachten es einfach nicht als unsere zentrale Aufgabe, nachts für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Mit Corona hat das nichts zu tun.» Einen Anstieg von Einsätzen in den vergangenen Monaten habe man nicht zu verzeichnen.
Trinken aus einer Vodka-Flasche
Etwas anders klingt das freilich bei Adolfo Chiovarelli. Er ist Chef des Arisdörfer Sicherheitsunternehmens First Choice Security. Statt der Polizei sind seine 20 Angestellten täglich im Auftrag von insgesamt zehn Baselbieter Gemeinden auf Patrouille, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. «Wir hatten vergangenes Jahr gerade in diesem Bereich deutlich mehr zu tun als zuvor», sagt er. Den ebenfalls coronabedingten Ausfall von Einsätzen an der Fasnacht, an Konzerten, Festen oder anderen Veranstaltungen habe man mit Corona-Kontrollen gut kompensieren können.
Einerseits absolvierten die Sicherheitsleute auf Wunsch von Gemeinden viele Kontrollgänge in Läden und Beizen, um die jeweiligen Schutzkonzepte und deren Einhaltung zu überprüfen. Abends und an Wochenenden habe man aber vermehrt auch Jugendliche zurechtgewiesen, die sich nicht an die geltenden Regeln hielten.
«Vor allem während des Lockdowns, als auch die Schulen geschlossen waren, trafen wir abends viel mehr Jugendliche draussen an. Sie haben Fussball oder Basketball gespielt oder gemeinsam Alkohol getrunken.» Dabei seien die Abstandsregeln meist nicht eingehalten worden, teilweise habe man auch aus derselben Vodka-Flasche getrunken. «Das war eine sehr mühsame Arbeit, weil es immer und immer wieder dieselben Personen waren, die sich nicht an die Massnahmen hielten.» Mit der Öffnung der Schulhäuser habe sich das wieder gelegt, auch weil das Lehrpersonal viel Aufklärungsarbeit geleistet habe.
Nachbarn verpetzen
Hinzu kommen in jüngster Zeit viele Telefonanrufe von Personen, die ihre Nachbarn verpetzen, weil sie vermuten, es würden sich zu viele Personen in einem Raum befinden oder die Abstände würden nicht eingehalten. «Wir führen viele Gespräche mit den Leuten und merken auch, dass es ein gesteigertes Bedürfnis danach gibt», so Chiovarelli. Auf diese Weise bekomme er den Puls der Bevölkerung mehr als zuvor zu spüren.
Und dieser schlägt seit der zweiten Corona-Welle deutlich höher – ja aggressiver. «Manchmal motzen mich die Leute bei einer Kontrolle an, noch bevor ich ein Wort sagen kann. Das legt sich mit etwas Fingerspitzengefühl in der Regel zwar schnell wieder», aber der Verdruss über die ganze Situation um Corona sei nicht zu übersehen. «Dabei wollen wir doch alle, dass diese Zahlen endlich wieder herunterkommen.»